vorgeschlagen, zunächst über die prinzipiellen Anträge der Sozialdemokraten auf
Zollfreiheit abzustimmen, „damit die Antragsteller zu ihrem Rechte kämen".
Herr Richter bemängelte diesen Vorschlag und schlug das entgegengesetzte Ver
fahren: Abstimmung von oben nach unten vor, was soviel bedeutete, als die
sozialdemokratischen, Zollfreihcitsanträge von der Abstimmung auszuschließen.-
Jetzt ertönte zum ersten Male lebhafte Zustimmung von rechts, die von nun an
gebräuchlich werden sollte, wann immer der Führer der freisinnigen Volkspartci
das Wort im Geschäftsordnungskampfe ergriff — von den letzten Tagen ab
gesehen, da Herr Richter widerwillig wieder Hand in Hand mit der Opposition
ging; da aber war es zu spät. Reichsgerichtsrath Spahn vom Zentrum,
der' an diesem Tage zum ersten Male als Geschäftsordnungsführcr der Mehrheit
hervortrat, stimmte Herrn Richter natürlich begeistert bei, und Graf Ballestrem
fügte sich gern dem Beschlusse der Mehrheit, die gegen seinen ursprünglichen, dann
aber rasch aufgegebenen und von Singer wieder aufgenommenen Vorschlag
entschied. In drei namentlichen und vier einfachen Abstimmungen unterlagen
die Regierungs- und die Ueberagrarier-Vorschläge dem Kommissionskompromiß.
Für den von den Bündlern geforderten 7,80 Mark - Mindestzoll für das Brod
getreide stimmten 44 Unentwegte. Das Zentrum hatte gesiegt und die Regierung
eine schallende Ohrfeige bekommen. Schade nur, daß es eine Scheinohrfeige war,
nach Art derer, die sich die Clowns im Zirkus verabreichen.
Der nächste Tag, der 22. Oktober, war der Tag der Offenheiten. Herr
v. Kardorff beschimpfte das arbeitende Volk der Industriestädte als „skrophu-
löses Gesindel" und der Zentrumsbayer und Pfarrer Gerstenberger ver
kündete: „Jeder sucht sein Schäfchen ins Trockene zu bringen", ein prächtiges
Cingeständniß der unverschämten Jnteressenpolitik, die im Reichstag das große
Wort führt. Gleichzeitig wußte dieser Redner bereits die Art und Weise näher
zu bezeichnen, wie das Schäfchen ins Trockene gebracht werden könne: er entwarf
den Grundriß für die Mogelei zwischen Zentrum und Regierung. Schon anr
22. Oktober machte Herr Gerstenberger folgenden Vorschlag, der nachher zum
Beschluß erhoben wurde: „Wir sind gern bereit, die Futtergerste arischem
Minimaltarif herauszulassen. Die große Mehrheit meiner Partei wird einem
Zolltarif nicht zustimmen, welcher nur 8 Mark für die bayerische Gerste — das
ist die Braugerste — enthält." Für 1 Mark mehr machten sie später das Geschäft.
Am 24. Oktober aber stellte der Agrarier Graf Kanitz der Opposition
folgendes Zeugniß aus:
„Nachdem wir in den letzten sieben Sitzungstagen die Getreidezölle glücklich
erledigt haben, möchte ich den Herren auf der linken Seite meinen Darr! und
meine Anerkennung dafür aussprechcn, daß sie durch die Mäßigung und Zurück
haltung in ihren Reden es ermöglicht haben, daß wir nunmehr zu diesem
wichtigen Abschnitt, der sich auf die Thierzucht bezieht — den Viehzöllen —,
durchgedrungen sind."
Daran ermesse man die Wahrheit des von Herrn Eugen Richter auf
gebrachten Geredes, daß die Verständigung zwischen Regierung und Mehrheit
erst durch die „Obstruktion" der Sozialdemokratie und der freisinnigen Ver
einigung herbeigeführt und ermöglicht worden sei.
Vom 23. Oktober an mehrten sich die Vorzeichen der Gewalt-- und Knebel-
politik — trotz der Mäßigung und Zurückhaltung der Minderheit, die ihr ein so
unverdächtiger Zeuge, wie Graf Kanitz, in einer Aufwallung von Ehrlichkeit
bald darauf bescheinigte. Ein Schlußantrag der Konservativen schnitt die Dis
kussion über die Mindestzölle auf Hafer und Gerste ab, nachdem die Zöllner sich
genügend ausgeredet hatten. Zwei freisinnige Redner und der Sozialdemokrat
Molken b u h r wurden so mundtodt gemacht. Der konservative Vizepräsident
Graf zu Stolberg, ein ganz hervorragend am „Schutz der Landwirthschaft"'