Full text: Über angebliche Zahnanlagen bei Vögeln

Man ersieht aus dem Vorhergehenden, dass seit bald 100 
Jahren verhältnismässig oft der Versuch gemacht worden ist, 
reduzierte Zahnanlagen bei Vögeln zu entdecken. Es wäre ja 
auch von besonderem phylogenetischem Interesse, wenn die dahin 
zielenden Untersuchungen schon ein positives Resultat erbracht 
hätten. Aber die Theorien sind unhaltbar, die Deutungen 
erscheinen mehr oder minder gezwungen. 
Wenn wir von Geoffroy St.-Hilaire und Cuvier 
absehen, die damals (1820) noch nicht im Gegensatz zueinander 
and unter dem Einfluss des Dogmas von der Konstanz der Arten 
standen, so sind für die jüngeren Autoren wohl hauptsächlich 
descendenztheoretische Gründe die Veranlassung gewesen, der 
Forschung nach Zahnanlagen bei Vögeln sich zu widmen. Und 
hier liegt auch die Erklärung dafür, warum sie durchaus Rudimente 
finden wollten und angeblich auch fanden. Sie machten einfach 
das zu Beweisende zur Voraussetzung, und aus der Voraussetzung 
und ein paar nichtssagenden Scheingründen bewiesen sie. Es 
galt, durch das Auffinden von rudimentären Zahnanlagen den 
Nachweis zu führen, dass unsere recenten Vögel direkte Ab- 
kömmlinge der fossilen Zahnvögel sind. Hätten die neueren 
Forscher ihre Aufgabe mit der notwendigen Objektivität ange- 
fasst, so wären sie wohl auch über ein negatives Ergebnis nicht 
weiter verwundert gewesen. So aber urteilten sie folgender- 
massen: „Die recenten Vögel sind direkte Nachkommen der 
Zahnvögel, folglich müssen sich bei ihnen noch Zahnanlagen 
Snden lassen. Es existieren tatsächlich Gebilde, die man so 
deuten kann; folglich ist die Aufgabe gelöst.“ Es wird zwar nicht 
direkt ausgesprochen, dass der Zweck der Untersuchungen ein 
phylogenetischer ist; aber wenn man bedenkt, dass zurzeit die 
zesamte Zoologie und zum grössten Teil auch die Entwicklungs- 
geschichte unter der Herrschaft der Descendenztheorie steht, so 
kann es nur ein phylogenetisches Interesse sein, das immer 
wieder Forscher veranlasst hat, nach reduzierten Zahnanlagen 
zu suchen. Diese spezielle Aufgabe kann nur der höheren Idee 
dienen, den Zwischenraum zwischen den recenten Vögeln und den 
uns bekannten jurassischen und cretacischen Vögeln zu über- 
brücken. Erst in Verbindung mit der Allgemeingut gewordenen 
Mutationstheorie ist das Interesse an der Auffindung von Gebiss- 
rudimenten bei Vögeln erklärlich.
	        
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