— 14 -
Willensanstrengung der Seele. Die Eigenschaften des
Geistes und die Gewohnheiten des Lebens üben sicher
großen Einfluß auf das äußere Aussehen, und können
sie dessen ursprünglichen Typus nicht umgestalten, prägen
sie ihm doch ihre Spuren aus.
Jeder Physiognom, der den Harrenden auf der Pra
ger Moldau-Brücke gesehen, würde sofort erkannt haben,
daß dieser Mann ein hohes geistiges Leben führte und
seine Iugendkrast ernsten und schweren Studien gewid
met hatte.
Die Glocken hatten eben die zehnte Stunde ge
schlagen, als von dem Hradschin herkommend ein Mann,
in einen leichten Spmmermantel gehüllt, in die Halb
rotunde trat und auf den Harrenden zuging, der sich
rasch erhob.
„Willkommen, Herr, ich sehe, Sie haben meinen
Brief erhalten, und Neugier oder der Durst des Wissens
ist wirklich so groß gewesen, Sie die Reise machen zu lassen."
Cr streckte ihm die Hand entgegen, die der andere
mit seinen beide.« herzlich faßte und schüttelte.
„Signor L a s a l i, wie freue ich mich, Sie gesund
und kräftig wiederzusehen?"
„Cospetto! nach dem Abenteuer in den römischen
Katakomben, wo Sie mir das Leben retteten! Sie ^hen,
die fünf Tage des Hungers und Dmstens haben keine
Nachwirkung hinterlassen, als daß mein Appetit nach
Ortolanen und Champagner höchstens desto raffinierter
geworden. Aber Sie sehen auch, daß Larochesoucauld's
und Macchiavelli's Maximen von der Dankbarkeit der
Menschen nicht immer ganz zuverlässig sind, lieber Dok
tor, und daß es wirklich in der letzten Hälfte des zwanzig
sten Jahrhunderts noch Personen gibt, die sich ihrer
Schuld der Dankbarkeit erinnern und ihre Wechsel ein
lösen, ohne durch das Handelsgericht dazu gezwungen
zu sein."