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kann es für einen vorurteilslos an diesen Gegenstand Heran
tretenden kaum zweifelhaft sein, dass sich die Gesellschaft,
welche sich im Verlaufe der Zeit unter den Chymisten in ge
schlossenerer Ordnung bildete, nach ihrem eigenen, dem von
ihr zu bearbeitenden Materiale: Rosenkreuz, »Rosenkreuzer«
genannt hat.
Nun aber wirft sich die Frage auf: Was ist es denn mit
dem Vater Christian Rosenkreuz, dem Helden der Fama? —
dem angeblichen Gründer des Ordens der Rosenkreuzer? Nun,
diese hübsche Erfindung dürfen und wollen wir den Rosen
kreuzern nicht verdenken. Musste doch sogar Gott selbst, um
nur von der Gründung einer Religion zu reden, statt deren
mehrere hier heranzuziehen, sich in Buddha verkörpern, um der
Welt ein neues Licht zu bringen! Musste doch die Wölfin
Romulus und Remus säugen, um aus dem latischen Räuber
nest ein Weltreich zu machen. So hat für alles Grosse und
Gewaltige im reinen Kulturleben sowohl wie in der Politik
die schöpferisch gestaltende Kraft der Mit- und Nachwelt ge-
wissermassen unbewusst Helden geschaffen und dabei so hoch
gegriffen, als dieses ihrem Gedankenkreis nur irgend entsprach.
Mit der Vorstellung einer ruhigen Entwicklung aus gegebenen
Elementen, aus vorhandenen Anlagen hat sich die Menge noch
nie zufrieden gegeben. Es muss ein Held sein, der das Gigan
tische schuf, der das Gewaltige, was nun vor ihren Augen
steht, dereinst aus dem Nichts heraushob. Und diesen Helden
schafft sie sich selber, ganz nach ihrem Geiste, dessen Kind er
ist. Entweder stellt sie an die Spitze irgend einer bedeutsamen
Kette eine reine Phantasieschöpfung oder aber, wo der Anfang
ihrem Blicke noch näher liegt und derselbe tatsächlich mit
irgend welcher historischen Persönlichkeit in Verbindung zu
bringen ist, legt sie diesem ein ungewöhnliches Gewand an,
stattet ihn mit übermenschlichen Zügen und Eigenschaften aus.
Auch Kunstschöpfungen derart gibt es, die aber nur dann Er
folg hatten, w T enn sie ganz im Sinne der Mitwelt ausfielen. So
missriet der Versuch, dem römischen Volke eine Abstammung
von Äneas aufzudrängen trotz der herrlichen Aneide, wäh
rend andererseits das Heinesche Gedicht von der Loreley die
Entstehung einer Lokalsage hervorrief.
Wie das Alte uns Menschen überhaupt ehrwürdig er
scheint, so ist es bis auf den heutigen Tag das Bestreben fast
aller sich bildenden Gesellschaften geblieben, an bereits durch
Alter gewissermassen Geheiligtes anzuknüpfen, um so vor der
Mitwelt in wirkungsvollerer Weise ihre Existenzberechtigung
darzutun und höheres Ansehen zu geniessen. Beruht ja doch
schliesslich unser ganzes Adeltum auf dieser selben Grundlage.
Wer wollte es daher den Rosenkreuzern verdenken, wenn sie,
als sie aus einer verborgenen Existenz in die breitere Öffent