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Hier stoßen wir nun gleich auf einen Unterschied, der sich vielfach zwischen
dem Turnen und dem Sport bemerklich macht. Unter einer größeren Anzahl
von Leuten finden wir geschickte, weniger geschickte oder ungeschickte. Da
ist es nun Sache des Turnlehrers, möglichst viele, womöglich alle Teilnehmer am
Turnen in gleicher Weise zu fördern und sie alle dem gleichen Ziel nahe zu bringen.
Und dies läßt sich nahezu ermöglichen, denn die turnerischen Übungen sind
überaus verschieden in ihrer Schwierigkeit. Sie können gewissermaßen dosiert
werden. So gelingt es denn dem tüchtigen Turnlehrer, eine große Masse von Schülern
wenigstens in leichteren Übungen vorwärts zu bringen und die Kräftigung des
Körpers bei weitem der großen Mehrzahl zugute kommen zu lassen. Anders da
gegen haben sich die Verhältnisse beim Sport entwickelt. Nehmen wir z. B. den
Springsport. Da wird von vornherein eine gewisse Auslese unter verschiedenen
Leuten getroffen, die vermöge ihres ganzen Körperbaus gut springen können.
Diese werden dann ausgebildet und so eine außerordentlich hohe Leistung im
Sprung erreicht, und nur diese Höchst
leistung wird gewertet; wer unter ihr
bleibt, zählt überhaupt nicht. So ähn
lich ist es bei jedem Sport, nur daß
statt des einzigen Siegers vielfach, wie
beim Rudersport, beim Ballsport usw.,
eine ganze Anzahl von besonders ge
bildeten Leuten Zusammenarbeiten und
Hervorragendes leisten. Das Turnen bil
det mehr die Massen und kann vermöge
der Mannigfaltigkeit seiner Übungen
den ganzen Körper in verschiedener
Art entwickelnund ausbilden. Der Sport
sucht sich seine Leute aus, oder man
kann auch sagen, die Leute suchen ihn aus und entwickeln sich in ganz spezieller
Richtung. Sie lernen z. B. mit möglichst großer Geschwindigkeit einen schneeigen
oder vereisten Abhang auf einem Schlitten hinuntergleiten, und derjenige ist
Sieger, der nur einige Sekunden weniger braucht als ein anderer, obwohl dieser
im allgemeinen ein viel geschulterer Springer oder Läufer sein kann als der erstere,
der den Berg sozusagen hinabfliegt. Der Sport entwickelt die Einseitigkeit, das
Turnen die Vielseitigkeit, denn es wird ähnlich wie bei den griechischen Wett
spielen auch beim deutschen Turnen eine Mannigfaltigkeit der Leistungen in den
verschiedenen Übungen gefordert und als ein Kennzeichen eines guten Turners
angesehen.
1. Bild des i. Vorstands der Turnlehrerbildungsanstalt, Professors Dr. O.H.
Jäger. 2. Bild des 2. Vorstands, Professors Keßler. 3. Resultate physiolo
gischer Untersuchungen an den Teilnehmern des Turnkurses 1910, von
Professor Dr. Fetzer (Tabelle). 4. Haltungsvorbilder für Eisenstabübungen,
nach photographischen Aufnahmen von Professor Keßler. 5. Haltungs
vorbilder für Freiübungen, photographische Aufnahmen von Professor
Keßler. 6. Abbildungen aus Jägers Neuer Turnschule; 40 Holzschnittafeln
nach Künstlerzeichnungen, zu denen Jäger selbst Modell stand. 7. Photo
graphische Aufnahmen aus dem Schulturnen: Ausgewählte Übungen, ge
Hochsprung nach Augenblicksaufnahmen
von Marey. Etwa 13 Aufnahmen in der Sekunde.
Links oben eine Uhr, deren Weiser in der Sekunde
sich einmal herumdreht.