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soll man Prinz Hamlet in Gottes Namen seine Ophelia
küssen lassen — und Prinz Hamlet philosophiert nicht mehr.
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Wüßte ich nur, was bei uns das Faule, Verpestende,
Auflösende ist? Denn da ist es! Es ist überall: im ganzen
Königreiche, im ganzen Königshause, in meinem eigenen
Blute, meinem eigenen Gehirn. Wenn ich Atem hole, so atme
ich Fäulnisbazillen ein und mit mir jeder, der in dieser
duinpfen Atmosphäre lebt.
Was ist es nur mit uns allen?
Ich grüble und grüble. Ich verzehre mich in Grübeleien,
löse mich darin auf. Jeden Menschen sehe ich daraufhin an:
ob auch er den Leichengeruch bei uns wittert; ob auch er
darüber grübelt; ob er vielleicht weiß: „Das ist es — das!"
Aber schließlich geht jenes mystische, unheimliche, gespen
stische Etwas nur meinen Vater, den König, und meinen Bru
der, den Kronprinzen, etwas an. Was habe ich als zweiter
und letzter Prinz unseres Hauses mit der Fäulnis im Staate
Dänemark zu schaffen?
„Apr6s moi le d61uge!“
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Ob meine Leidenschaft zum Grübeln, dieses Stücklein
Hamlctsnatur, mir wohl im Blute steckt? Oder ist meine Er
ziehung schuld daran? Man dressiert mich ja förmlich zur
Opposition. Nur, um Himmels willen, keine Individualität!
Selbst als durchaus harmloser, vollkommen unpolitischer zwei
ter Prinz keine Individualität — nicht den Schatten einer
eigenen, freien Persönlichkeit. Vielleicht erscheint im Staate
Dänemark nur deshalb etwas faul, weil Prinz Hamlet Don
dem Prinzentypus eine Ausnahme macht?
Weswegen bin ich nicht typisch? Es wäre für mich und
andere so bequem. Welcher entartete Ahnherr, welche un-
typische Großmama vererbte mir meine etikettewidrige Natur?
Jedes Konglomerat von Eigenschaften ist mehr oder weni
ger nur ein Produkt bloßer Zufälligkeiten. Und doch wird
uns dafür die Verantwortlichkeit aufgebürdet.
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