120 1 Teil. 2. Buch. 2. Kap. Die Glückseligkeit als untergeordneter Endzweck.
2. An der Tatsache des Naturtriebes nach vollkommener Beseli-
gung kann also kein vernünftiger Zweifel bestehen. Es ist aber unmög
lich, daß diesem Naturtrieb nicht die vollkommene Glückseligkeit als wirk
lich erreichbares Ziel entspreche. Ein Naturtrieb kann nicht vergeblich
oder zwecklos sein \ Nun aber wäre der Glückseligkeitstrieb zwecklos und
eine Anklage der Weisheit und Güte Gottes, wenn ihm nicht die Glück
seligkeit als wirklich erreichbares Ziel entspräche.
Wer leugnet, daß dem Glückseligkeitstrieb die Glückseligkeit als er
reichbares Ziel entspreche, mutz vor allem einen unauflöslichen Wider
spruch in der menschlichen Natur annehmen, oder wenigstens behaupten,
die menschliche Natur habe einen notwendigen Drang nach einem völlig
unerreichbaren Ziel. Ja er muß im Grunde annehmen, die menschliche
Natur habe keinen für uns erkennbaren Zweck. Wenn wir aus dem Na
turtrieb der menschlichen Natur nicht mehr auf ihre Bestimmung für die
vollkommene Glückseligkeit schließen dürfen, so haben wir auch kein Recht
mehr, zu behaupten, das Auge sei zum Sehen, das Ohr zum Hören be
stimmt. Er muß endlich behaupten, der Mensch, das Kunstwerk der ganzen
sichtbaren Natur, sei in einer bedauernswerteren Lage als das Vernunftlose
Tier, und zwar infolge seiner höchsten Vorzüge. Wenn das Tier satt ist
und Ruhe hat (eibuin st vsnsrsm) hat es seinen Himmel. Von einem
Zustande vollkommener Glückseligkeit im Besitze alles Guten hat es keine
Idee. Sein Sinnen und Trachten geht nicht ins Unermeßliche wie beim
Menschen. Es hat weder den Trieb nach vollkommener Glückseligkeit noch
das Bewußtsein davon. Der Mensch dagegen wird beständig vom Ver
langen nach vollkommener Glückseligkeit getrieben. Dieser Trieb ist der
ungestillte Seelenhunger, dessen Bewußtsein ihn quält und zu immer
neuem Schaffen fortreißt. Gesetzt nun, diese Glückseligkeit sei ihm nicht
erreichbar, so wäre er beklagenswerter als das Tier, und zwar auf Grund
seines edelsten Vorzuges, seiner Vernunft. Den Evolutionisten könnte
man dann — von seinen eigenen Grundsätzen aus
gehend — mit Recht fragen, was es dem Menschen nütze, im Kampf
ums Dasein alle Gegner aus dem Felde zu schlagen und auf die oberste
Abhandlungen, III, 209. Derselbe sagt in seinem „Grundriß der Geschichte der
griechischen Philosophie" 4 , 180: „Der Zweck aller menschlichen Tätigkeit ist nach
Aristoteles im allgemeinen, wie dies kein griechischer Ethiker be
zweifelt, die Glückseligkeit." „Das Glück", behauptet Hilth („Das
Glück" 4 , 179), „ist eigentlich der Schlüssel unserer Gedanken... Es gibt
nichts, worin alle Menschen so einig sind, wie das Glück
suche n." Hören wir endlich noch einen Sozialdemokraten: „Der Glückseligkeits
trieb", sagt Engels (L. Feuerbach 2 [1895], 31), „ist dem Menschen angeboren."
1 S. T h o m., 8. th. 1, q. 75, a. 6: Desiderium naturale non potest esse
inane. Schon Ari st vieles (Polit. 1, 8) stellt den allgemeinen Grundsatz auf,
die Natur tue nichts umsonst und zwecklos.