124 1. Teil. 2. Buch. 3. Kap. Von dem Gegenstand der menschlichen Glückseligkeit.
denkbar ohne Vernichtung derselben. Die Harmonie mehrerer Töne kann
nicht durch Verschmelzung erreicht werden, sondern nur dadurch, daß
man sie in das richtige Verhältnis zueinander bringt. Dasselbe gilt
auch von den verschiedenen menschlichen Strebevermögen, und wir stehen
also vor der Frage: in welchem Verhältnis sollen sich dieselben zueinander
befinden? Wir antworten: indem der Unterordnung der nie-
dernKräfte unter die geistigen.
Eine bloße Nebenordnung so ungleichwertiger und verschiedener Ver
mögen kann nicht angenommen werden, noch weniger eine Unterordnung
der höheren unter die niederen. Der vernünftige Teil muß das Über
gewicht haben. Es ist in der ganzen Natur Gesetz, daß das Niedere dem
Höheren, das Anorganische dem Organischen, die Pflanzen den Tieren,
diese den Menschen untergeordnet sind. Dasselbe muß auch im Menschen
der Fall sein. Tatsächlich dient auch das vegetative Leben im Menschen
dem Aufbau und der Erhaltung der Organe des sinnlichen Lebens und
dieses hinwiederum der Entfaltung des geistigen Lebens.
Die niedern Kräfte und Fähigkeiten im Menschen sind also nicht um
ihrer selbst, sondern um der geistigen Fähigkeiten willen vorhanden.
Sie sind Werkzeuge des Geistes und dürfen sich deshalb nicht un
abhängig von Verstand und Willen betätigen, sondern nur in ihrem
Dienste und zu ihrem Nutzens Der geistige Teil im Menschen ist der
Zweck der niedern Teile und zugleich der Gebieter und Feldherr, der
allen andern Fähigkeiten die Art und Richtung der Bewegung anweist.
Z 2. Kein geschaffenes Gut vermag den Menschen
vollkommen zu beglücken.
Welche Eigenschaften muß ein Gut besitzen, unr uns vollkommen .
beglücken oder unser höchstes Gut sein zu können? Es muß vor
allem a) um seiner selbst willen begehrt werden. Würde es als
Mittel zu etwas anderem erstrebt, so wäre dieses andere ein höheres
Gut, folglich das erstere nicht mehr das höchste Gut. Es muß ferner
b) dauernd, ja unvergänglich sein. Fehlten ihm diese Eigen
schaften, so müßte man besorgen, seiner verlustig zu gehen. Mit Furcht
und Sorge ist aber die vollkommene Glückseligkeit unvereinbar. Das
höchste Gut muß weiterhin c) uns von allen Übeln befreien und
ck) unsern Trieb nach dem Guten vollständig befriedigen.
1 S. Thom., 8. th. 1, 2, q. 2, a. 5; C. gent. 1. 3, c. 25. Quae pars optima
est in homine, sagt Cicero (Tuseul. 5, 23), in ea situm esse necesse est
illud, quod quaeris Optimum. Quid autem est in homine sagaci ac bona
mente melius? Eius ergo bono fruendum est, si beati esse
volumus.