§ 4. Das selige Leben im Jenseits.
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schen Leben ist auf hundert Jahre abgemessen; die Hälfte davon geht in
Nacht (im Schlafe) dahin, die eine Hälfte der andern Hälfte in Kindheit
und Greisenalter, die übrig bleibende wird unter Krankheit, Trennung
und Schmerz im Dienst und ähnlichem verbracht. Wie können die Men
schen Freude haben an einem Leben, das den Blasen einer Wasserwoge
gleicht*?" Sehr schön singt der Dichter (Lenau):
O Menschenherz, was ist dein Glück?
Ein rätselhaft geborener
Und, kaum gegrüßt, verlorener,
Unwiederholter Augenblick.
Der innere Grund dieser allgemeinen Erfahrungstatsache liegt zu
tage. Volle Glückseligkeit erheischt den Ausschluß aller Übel und den Be
sitz aller Güter, deren wir zu unserer vollkommenen Befriedigung be
dürfen. Ein solcher Zustand ist aber hienieden unmöglich.
Wir können in diesem Leben nicht alle Übel von uns fernhalten.
Von seiten des V e r st a n d e s sind wir großer Unkenntnis und Unwissen
heit, ja vielen Irrtümern unterworfen. Unsere Kenntnis Gottes, der
den eigentlichen Gegenstand unserer Glückseligkeit bildet, ist dunkel und
unvollkommen, bei den meisten Menschen mit Irrtümern vermengt.
Zeugen dessen sind die größten Weisen des Altertums, ein P l a t o und
Aristoteles, Zeugen dessen alle Philosophen der Neuzeit, welche
außerhalb der christlichen Offenbarung stehen und die widersprechendsten
Ansichten über Gott und göttliche Dinge vortragen. Selbst der vom
Glauben erleuchtete Christ weiß nur das Notwendige über Gott. Wie
sieht es erst mit der Erkenntnis Gottes bei der großen Masse der Men
schen aus? Eine solche Erkenntnis kann unmöglich den nach Wahrheit
dürstenden Verstand vollkommen beftiedigen.
Zu dieser mangelhaften Gotteserkenntnis gesellt sich die Unwissenheit
in den Dingen dieser sichtbaren Welt. Welch armseliges
Stückwerk ist alles menschliche Wissen! Aristoteles sagt, der menschliche
Geist verhalte sich zu den offenbarsten Dingen der Natur wie das Auge
der Fledermaus zum Lichtet Unsere Erkenntnis ist ein schwaches Däm
merlicht im Vergleich zur Sonne des göttlichen Erkennens. Deshalb ist
der wahrhaft gründlich Gelehrte bescheiden. Wer nicht auf der Oberfläche
bleibt, stößt bald überall auf Lücken und Mängel seines. Wissens. Es
geht den: Forscher wie dem Wanderer beim Erklimmen eines Berges,
je höher er steigt, um so mehr Gegenstände sieht er. Newton sagt ein
mal, er komme sich vor „wie ein Knabe, der am Meeresstrande spielt
1 Vgl. Böthlingk, Indische Sprüche, 1 1 2 , Petersburg 1870, Nr. 996.
2 Metaphys. 1. 1, c. 10, 993b, 9.