136 I. Teil. 2. Buch. 3. Kap. Von dem Gegenstand der menschlichen Glückseligkeit.
und sich daran freut, von Zeit zu Zeit einen glatten Kiesel oder eine
schönere Muschel als gewöhnlich gefunden zu haben, während der große
Ozean der Wahrheit unentdeckt vor ihm liegt". Je weiter der Forscher
vordringt, um so mehr Fragen und Rätsel steigen vor seinem Geiste auf.
Umsonst ringt er vielleicht ein ganzes Leben nach der Lösung einer ein
zigen Frage, an der schon Unzählige vor ihm erfolglos gearbeitet haben.
Von seiten des Willens unterliegen wir den Angriffen zahlreicher
ungeregelter Begierden. Wieviel Kampf kostet dem redlich Ringenden
die Bezähmung der bösen Neigungen in der eigenen Brust! Haß und
Liebe, Schmerz und Freude, Zorn und Neid, Stolz und Habgier, und wie
die Leidenschaften alle heißen, streben um die Wette nach der Herrschaft
über den Willen und greifen störend in unser Lebensglück ein.
Das sind die Feinde im eigenen Lager. Die Leidenschaften und Ver
kehrtheiten unserer Mitmenschen verhundertfachen die Feinde. Was
sagen uns die unzähligen Kriege, Fehden und Feindschaften? Welche Un
masse von Leid und Weh hat nicht allein der letzte Weltkrieg erzeugt!
Was erzählen uns die ungeheuren Verbrecherstatistiken? Sind das nicht
ebensoviele störende Eingriffe der einen in das Lebensglück der andern?
Hierzu rechne man die vielen Übel, die uns ohne eigene oder fremde Schuld
treffen: Unglücksfälle, Krankheiten, Leiden aller Art: Kälte, Hitze, Hun
ger, Durst, Ermüdung, die Schwäche der Jugend und die Erschlaffung
des Alters.
Ebensowenig als alle Übel von uns zu entfernen, ist es uns gegeben,
alle berechtigten Wünsche zu befriedigen. Es genüge, an das natür
liche Verlangen zu erinnern, die schon erworbenen Güter dauernd zu be
wahren. Nun gibt es aber nichts Dauerndes auf Erden. Alles ist in be
ständigem Wandel begriffen hier unter dem wechselnden Mond. In die
sem Sinne können wir das freilich in anderer Bedeutung gesprochene
Wort des dunklen Heraklit gebrauchen: „Alles fließt." Und wenn es
auch gelänge, allem Vergänglichen um uns her Stillstand zu gebieten,
uns selbst können wir nicht dem Wechsel entziehen. Nur ein kurzläufiger
Strom ist unser Leben, und kein Mensch kennt den Augenblick, wann der
selbe in die Ewigkeit mündet. Der Tod kommt sicher, kommt bald, aber
zu einer ungewissen Stunde wie der Dieb in der Nacht.
In kurzen, markigen Worten hat Job (14,12) die Lebensgeschichte
jedes Adamskindes entworfen: „Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt
eine kurze Zeit und ist vielen Jammers voll. Wie eine Blume sproßt er
auf und wird gebrochen und flieht, dem Schatten gleich, und bleibt nie
stille stehen." Weinend wird er geboren, in Angst und Todesnot scheidet
er aus diesem Leben. Und was liegt zwischen diesen beiden Polen, zwi
schen Wiege und Grab? Sterbend rief der Kaiser Septimius Severus:
„Alles war ich; nichts bleibt mir."