142 1. Teil. 2. Buch. 4. Kap. Unrichtige Ansichten über das Endziel des Menschen.
höchsten Gute rechneten. Sie hätten hierin, meint er, „durch die Stimme
ihrer eigenen Natur hinreichend widerlegt werden können"". Läßt sich
das nicht auch gegen seine eigene Lehre geltend machen? Laut und
unwiderstehlich kündet sich die Sehnsucht nach vollkommenem Glück in
jeder Menschenbrust an und fordert gebieterisch Befriedigung. Diese wird
aber dem Menschen in dem unendlichen „Progressus" nie zuteil. Wie
Tantalus streckt er in ewig vergeblichem Ringen seine Hand nach
der Frucht der Glückseligkeit aus. Das gilt um so mehr, als nach Kant
der Mensch auch im zukünftigen Leben wohl die „tröstende Hoffnung",
aber nie die Gewißheit haben kann, daß er bei seinem unendlichen Pro-
gressns allein aus echt moralischen Beweggründen verharren werdet
Die Lehre Kants untergräbt die Grundlage jeder sitt
lichen Ordnung. Die sittliche Ordnung verlangt eine genügende
Sanktion. An einer solchen gebricht es aber in seiner Sittenlehre.
Denn alle Menschen ohne Ausnahme, mögen sie nun ihr Leben als
Stoiker oder Epikureer, als christliche Heilige oder als Mörder und Diebe
zugebracht haben, werden sich einst in einem unendlichen Progressus zur
absoluten Heiligkeit hinbewegen, die einen vielleicht in einem höheren
Grade als die andern. Und wenn sie auch dazu keine Lust haben, so
krümmt ihnen niemand ein Haar. Kant schweigt sich über diesen dunkeln
Punkt seiner Lehre aus, was wir sehr begreiflich findend
§ 2. Das höchste Gut nach der Lehre der Sozial-
eudämonisten und Evolutionisten.
Der Kantsche „unendliche Progessus zur absoluten Heiligkeit" zählt
heute keine Verehrer mehr. Die stetig fortschreitende Kultur
oder irdische Wohlfahrt des Menschengeschlechtes, das
sind die höchsten Güter der neuesten Philosophie.
Diese Ansicht mag wohl deshalb viele Anhänger gefunden haben,
weil sie mit den Anschauungen sowohl der Pantheisten als der Ma
terialisten harmoniert und der modernen Entwicklungsidee entgegen
kommt. Beide anerkennen kein individuelles Leben jenseits des Grabes;
beide müssen deshalb dem menschlichen Streben irgend ein höchstes Ziel
hier auf Erden vorstecken. Und da dieses höchste Gut nicht im indi
viduellen Leben zu suchen sein kann, so muß die Menschheit selbst mit
ihrem Fortschritt in allen Kulturgütern aus den Thron des höchsten
Gutes erhoben werden.
1 Kritik der praktischen Vernunft, 249.
- Ebd. 244 A.
3 Vgl. Th. Meyer 8. J., Institutiones iuris naturalis, I, 40.