§ 2. Das höchste Gut nach der Lehre der Sozialeudämonisten u. Evolutionisten. 143
Schon Schleiermacher leugnete, daß man vom bloßen Stand
punkt des Individuums von einem höchsten Gute reden könne. Das
höchste Gut ist nicht etwas Individuelles, sondern etwas Soziales und
besteht im beständigen Fortschritt der Menschheit in der Kultur oder
darin, daß die Verminst immer mehr die ganze Natur durchdringe und
beherrsche. Für das Individuum besteht das höchste Gut in der Mit
arbeit an diesem großen Werdeprozeß und in der Teilnahme an den
Segnungen der allgemeinen Kultur und Wohlfahrt \
Diese Ansicht hat in neuerer Zeit unter den Philosophen der ver
schiedensten Richtungen Anhänger gefunden. „Das höchste Gut", sagt
Ziegler", „ist kein Einzelnes und Isoliertes, sondern ein Inbegriff und
ein Ganzes, kein Fertiges und Gegebenes, sondern ein Werdendes und
immer wieder zu Erarbeitendes, ein Ideal und doch ein in jedem
Augenblick sich Verwirklichendes, die fortschreitende Lösung der sittlichen
Ausgabe der Menschheit und die immer vollständigere Durchdringung
aller ihrer Zwecke und Mittel, aller ihrer Schöpfungen und Leistungen
mit dem sittlichen Geist, und eingereiht in diesen sittlichen Gesamt
organismus der einzelne wie als dauerndes Glied, so auf der andern
Seite als berechtigter Teilnehmer an allen Segnungen einer von solchem
sittlichen Geiste getragenen Kultur^."
Wie man das Grab mit Blumen bedeckt, so lieben es die Anhänger
der dargelegten Ansicht, mit blumenreichen Redewendungen die trostlose
Hohlheit ihrer Lehre zu verdecken. Dringen wir einmal durch die rheto
rische Hülle zum Kern der Sache vor. Der Menschen höchstes Gut ist die
Mitwirkung am Kulturfortschritt und der Vermehrung des allgemeinen
Wohls.
1. Diese Anschauung geht von der stillschweigenden Voraussetzung
aus, das Menschengeschlecht sei Selbstzweck, Gott sei also nicht das letzte
Ziel aller Dinge. Die Unhaltbarkeit dieser Ansicht haben wir schon dar
getan (S. 106 ff.). Sie führt auch notwendig zur Leugnung des persön
lichen Gottes. Hat Gott die Welt erschaffen, so ist er auch ihr höchster
Herr und letztes Ziel.
2. Erhebt die dargelegte Ansicht das Menschengeschlecht zum Selbst
zweck, so erniedrigt sie dagegen den einzelnen Menschen zum bloßen
Mittel für die Gesamtheit. Seine höchste Aufgabe ist es, sich immer
mehr in den Dienst der Gesamtheit zu stellen, oder mitzuarbeiten „am
sausenden Webstuhl der Zeit". Er ist nur eine Welle im Strom der Ent
wicklung, die sich einen Augenblick erhebt und dann spurlos verschwindet.
Daß eine solche Lehre mit der Unsterblichkeit der Seele unverträglich ist,
1 Schleier macher, Über den Begriff des höchsten Gutes. Sämtliche
Werke, 2. Abt.: Zur Philosophie, II, 146 ff.
^ Ziegler, Sittliches Sein und sittliches Werden, 112—113.