Full text: Allgemeine Moralphilosophie. (01)

146 1. Teil. 2. Buch. 4. Kap. Unrichtige Ansichten über das Endziel des Menschen. 
geht, zu befriedigen sucht? Und welches sind die stärksten Triebe? Glaubt 
Jodl wirklich von seinem Standpunkt, diese irdischen Genüsse seien Gift? 
sich ihnen hingeben heiße ohne Verstand leben wollen? 
Aber ist denn die sittliche Ordnung nicht auch ohne Rücksicht auf das 
„Zuchtmittel des Jenseits" imstande, das Herz zu erfreuen und zu begeistern? 
Mit wunderbaren Farben wissen die modernen Philosophen die Reize des 
sittlich Guten und Schönen auszumalen, um uns das „Hinschielen auf den 
Himmel" sJodlj zu verleiden. „Alle natürlichen Antriebe zum Sittlichen," 
sagt Jodl, „haben ihre Sanktion in der Erfahrung; jeder Mensch kann lernen 
und an sich selbst erleben die Freude am Rechttun, das stille Glück gelingen 
der Arbeit an sich selbst, an der Veredelung des eigenen Charakters und 
Willens, die Seligkeit der gestillten Träne beim Nächsten, den Stolz treuen 
Wirkens im Dienste eines Berufes 3 ." L. Büchner spricht von dem Trost 
und der Erhebung, welche diegroßartigeAussichtindieZukunft 
dem Manne des Fortschrittes bereite. Allerdings habe diese herrliche Zukunft 
das Mißliche, „daß wir sie nicht selbst erleben", und daß auch sie schließlich 
rückläufig „in ewige Nacht und Vergessenheit" versinken werde. Doch „können 
wir uns einstweilen (!) an dem Gedanken laben, daß wir uns noch in der 
Jugendzeit des Fortschrittes befinden, und, daß je älter derselbe wird, um 
so mehr die großen Prinzipien der Wahrheit, Wissenschaft und Gerechtigkeit 
den Sieg über die finstern Geister der Unwissenheit, des Aberglaubens und 
der gegenseitigen Beraubung davontragen werden-". 
Th. Ziegler gibt zu, daß wahrscheinlich einst alles Leben auf Erden 
erstarren werde. Trotzdem brauchen wir uns nach ihm keine trüben Zukunfts 
gedanken zu machen. „Treten wir in den Dienst des Guten und schaffen wir 
mit am guten Werk sdas heißt am Kulturfortschrittj, dann können wir uns 
vorahnend schon im Geiste des Blattes der Geschichte freuen, auf dem der 
einst der Anteil unserer Generation an der Kulturentwicklung der Mensch 
heit verzeichnet und gewogen sein wird 3 ." 
Also ein solch armseliges Gedankenlabsal, ein Sommernachtstraum von 
Dingen, die eingestandenermaßen uns Lebenden unerreichbar sind und einst 
in ewiger Nacht verschwinden werden, soll vermögen, das nach vollem Glück 
lechzende Herz zu befriedigen, es in allen Stürmen der Leidenschaften ans 
dem Wege der Tugend zu bewahren und in allen Trübsalen zu trösten und 
aufzurichten! 
Selbst D. S t r a u ß sieht sich zu dem Geständnis genötigt, daß eine solche 
Weltanschauung trostlos, ja geradezu entsetzlich ist. „Man sieht sich in 
die ungeheure Weltmaschine mit ihren eisernen, gezahnten Nädern, die sich 
sausend umschwingen, ihren schweren Hämmern und Stampfen, die betäubend 
niederfallen, in dieses ganz furchtbare Getriebe sieht sich der Mensch wehr- 
und hilflos hineingestellt, keinen Augenblick sicher, bei einer unvorsichtigen 
Bewegung von einem Rade gefaßt und zerrissen, von einem Hammer zer 
malmt zu werden. Dieses Gefühl des Preisgegebenseins ist 
1 Moral, Religion und Schule, Stuttgart 1892, 22. 
2 Der Fortschritt in Natur und Geschichte (1884), 36—37. 
3 Sittliches Sein und sittliches Werden, 142.
	        
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