154
1. Teil. 3. Buch. 1. Kap. Begriff der Sittlichkeit.
Gütern vorgezogen werden. Wir müssen bereit sein, eher alles Leid über
uns ergehen zu lassen, als zum Verräter an der Pflicht zu werden.
Doch nicht in der Ewigkeit erst zeitigt die Tugend ihre Früchte. Schon
hienieden ist sie in jeder Lebenslage der sicherste und beste Trost. Es kann
sein, daß alle irdischen Unternehmungen eines Menschen fehlschlagen,
daß ihn Krankheit, Verfolgung, Unglückssälle jeder Art auf allen Pfaden
begleiten. Mit sinnlichem Auge betrachtet, war sein Leben wert- und er
folglos. Aber ihm bleibt der süße Trost: er hat seine Pflicht erfüllt und
seine höchste und erhabenste Aufgabe gelöst. Deshalb ist auch sein Leben
weit davon entfernt, wertlos zu sein. Was er in Tränen gesät, wird er
in Wonne ernten.
Drittes Buch.
Don der Norm des sittlich Eulen.
Wir kennen jetzt die große, von jedem Menschen in diesem Leben zu
erfüllende Aufgabe. Er soll sich frei Gott unterwerfen durch Einhal
tung der sittlichen Ordnung und so zu dem beseligenden
Besitz des unendlichen Gutes im Jenseits gelangen. Aber worin be
steht die sittliche Ordnung? Was ist sittlich gut und bös, >und
woran erkennt man es? Das haben wir nun zu untersuchen.
Erstes Kapitel.
Begriff der Sittlichkeit.
§1. Die Sitte.
Sittlich und Sittlichkeit werden von Sitte abgeleitet. Es
fragt sich also vor allem, was man unter S i t t e zu verstehen habe. Die
Sitte gehört zu jenen Grundbegriffen, die klar in jedermanns Bewußt
sein stehen und erst dunkel werden, wenn man sie untersucht. Zur Klar
stellung dieses Begriffes müssen wir denselben Weg einschlagen, den
man bei Erklärung aller derartigen Begriffe einzuhalten hat (S. 7). Wir
müssen den Sinn erforschen, den allgemein die Menschen mit diesem
Worte verbinden. Die Sprache ist ja nur der Spiegel der inneren Ge
danken und Urteile. Was heißt also Sitte?
Das Wort Sitte wird im Deutschen in einer doppelten Bedeutung
gebraucht. Im ersten Sinne erscheint Sitte als gleichbedeutend mit Ge
wohnheit und bezeichnet jede häufige Wiederkehr der
selben Handlung, die von unserer freien Selb st be
stimmn ng abhängt. Zur Sitte in diesem Sinne gehört also er-