§ 2. Ursprüngliche Bedeutung von sittlich und Sittlichkeit. 157
lungen, durch die sie des Lobes oder Tadels, des Verdienstes oder der
Strafe usw. fähig werden.
Was ist nun dieses Gemeinsame in den freien Handlungen, das wir
mit sittlich, oder abstrakt gefaßt, mit Sittlichkeit bezeichnen?
Wer sich bei den neueren Moralphilosophen über diesen grundlegenden
Begriff Rat holen will, wird sich nicht wenig enttäuscht finden. Es
scheint ihnen diese Frage überhaupt gar nicht zum Bewußtsein gekommen
zu sein.
Bei katholischen Moralphilosophen finden wir drei Ansichten über
das Wesen der Sittlichkeit.
Die erste behauptet, die Sittlichkeit bestehe in der Beziehung
der freien Handlung zur Sitten norm. Stimme die Hand
lung mit dieser Norm überein, so sei sie sittlich gut; sonst gleichgültig
oder schlecht. Diese Ansicht ist nicht unrichtig, aber ungenügend. Es
sind mancherlei Beziehungen der freien Handlungen zur Sittenuorm
denkbar. Es bliebe also noch zu bestimmen, welcher Art die Beziehung
sei, welche die Handlung zur sittlichen mache. Wenn ich frei an die Sitten
norm denke, so hat dieser Gedanke auch eine Beziehung zu derselben,
ist aber doch nicht sittlich wegen dieser Beziehung.
Die zweite Ansicht meint, die Sittlichkeit bestehe in der Über
einstimmung oder Nichtübereinstimmung der freien
Handlung mit der Sittennorm. Stimmt eine Handlung mit
der Sittenregel überein, so ist sie gut; sonst schlecht oder gleichgültig.
Doch diese Ansicht verwechselt das sittlich Gute und sittlich Böse mit
dem Sittlichen überhaupt. Das Sittliche ist ein Gattungsbegriff, der
dem sittlich Guten und dem sittlich Bösen gemeinsam ist. Nun haben
die Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung einer Handlung mit
der Sittennorm als solche nichts Gemeinsames, sie bieten keine Grund
lage zu einem Gemeinbegriff, der beide als Arten gleichmäßig umfaßtes
Höchstens könnte man sagen, beide enthielten eine Beziehung zur Sitten
norm, und diese Beziehung bilde die Sittlichkeit. Aber mit dieser Ant
wort fiele die Ansicht wieder in die vorhin besprochene zurück.
Die dritte Ansicht endlich, die uns die richtige scheint, sieht in der
Sittlichkeit nur eine b e st i m m t e A r t u n d W e i s e, w i e d i e H a n d -
lung aus der Vernunft und dem Willen hervorgeht.
Geschieht eine Handlung in der Weise, daß die Vernunft aufmerkt auf
das Verhältnis derselben zur Richtschnur des menschlichen Handelns und
der Wille frei ist in der Entschließung, so ist die Handlung sittlich; sonst
ist sie nicht sittlich, d. h. eine Handlung, die nicht mehr sittlicher Be
urteilung unterliegt, die wir weder loben noch tadeln können.
1 Suarez, De bonitate et malit. act. hum. disp. 1, sect. 2, n. 8.