Full text: Allgemeine Moralphilosophie. (01)

§ 2. Ursprüngliche Bedeutung von sittlich und Sittlichkeit. 159 
a) Bloß die Akte des Willens selb st sind unmittel 
bar aus sich sittlich. Der Wille allein ist formell frei und hat 
aus sich die Herrschaft über sein Tun und Lassen. Alle andern Fähig 
keiten des Menschen sind nur insofern frei, als sie an der Freiheit des 
Willens teilnehmen. Deshalb sind auch die Betätigungen dieser Fähig 
keiten nur insofern sittlich, als sie vom freien Willen abhängen. Lesen, 
gehen, reden sind also nur so lange und so weit sittlich, als sie vom 
freien Willen ausgehen. Ist der freie Wille nicht mehr dabei, sei es 
nun wegen Mangel an Erkenntnis oder weil dem Menschen gegen seinen 
Willen Gewalt angetan wird, hören diese Handlungen auf, sittlich zu 
sein. Wir sehen schon hier, wie sich alle moralphilosophischen Unter 
suchungen um den freien Willen als um ihren Mittelpunkt konzentrieren. 
b) Die Sittlichkeit ist etwas wesentlich Individuelles, Per 
sönliches, der eigentliche und unmittelbare Träger der 
Sittlichkeit kann nicht die Gesellschaft, sondern nur die 
Einzelpersönlichkeit sein. Hieraus folgt dann weiter, daß der 
Begriff einer Sozialethik im Unterschied zur Jndividualethik, 
den man seit Schleiermacher in die Moralphilosophie einzuführen ver 
sucht hat, einen Widerspruch enthält. 
Kann etwa eine Gesellschaft als solche Böses tun, sich Tugenden er 
werben, das Gewissen erforschen, das eigene Verhalten bereuen u. dgl.? 
Nein und abermals nein! Looiotas äalingusra non potest, ist ein alter 
Spruch der Juristen. Der Staat als Gesamtheit, und dasselbe gilt von 
jeder Gesellschaft, hat weder Verstand noch freien Willen und kann des 
halb für sein Tun und Lassen weder gelobt noch getadelt, weder belohnt 
noch bestraft werden. Nur die einzelnen Personen im Staate sind frei 
und verantwortlich für ihre Handlungen, allerdings nicht bloß in per 
sönlicher, sondern auch in gesellschaftlicher Beziehung; denn der Mensch 
hat auch Pflichten gegen die Gesellschaft, mag er nun Vorgesetzter oder 
Untergebener sein. 
Es gibt im eigentlichen Sinne keine Gesamtvernunft, keine Gesamt- 
sreiheit, keine Gesamtseeleft kein Gesamtleben der Nation oder der 
1 Man redet zwar oft von Volksseele, aber es ist ein Irrtum, mit 
W. Wundt (Völkerpsychologie, I, 9—10; Elemente der Völkerpsychologie [1912], 
Einleitung) der Volksseele dieselbe Realität zuzuschreiben, wie der Seele des Indi 
viduums, und Völkerpsychologie und Jndividualpshchologie einander gleichzustellen. 
Zwar haben völkerpsychologische Betrachtungen ihre Berechtigung. Der einzelne 
Mensch ist in tausendfacher Weise von der Gesellschaft abhängig. Sein Denken, 
Wollen und Handeln wird fortwährend von der Umgebung durch physischen, gesetz 
lichen und moralischen Zwang, durch Belehrung, Ermahnung, Beispiel, Suggestion 
usw. beeinflußt. Diese wechselseitige Beeinflussung kann zu Ergebnissen führen, 
welche die Absicht und den Gesichtskreis des einzelnen übersteigen. Bei der Unter 
suchung der gesellschaftlichen Entwicklung auf geistigem Gebiete dürfen deshalb
	        
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