Full text: Allgemeine Moralphilosophie. (01)

372 1- Teil. 5. Buch. 1. Kap. Begriff und Dasein des natürlichen Sittengesetzes. 
regeltem Streben nach Auszeichnung und Größe fortreißen, wir müssen ihn 
im Zaume halten und Demut üben. Besondere Schwierigkeiten bereitet den 
meisten Menschen die Genußsucht, das ungeregelte Streben nach Befriedigung 
der Geschlechtslust und der Gaumenlust. Wer sich nicht beständig selbst über 
windet und den verkehrten Trieben nicht nur das Unerlaubte versagt, sondern 
ihnen auch manchmal in erlaubten Dingen Nein zuruft, wird nie die volle 
Herrschaft über diese Triebe erlangen. Auch zur Übung der Tugend ist Selbst 
verleugnung beständig notwendig. Um sein Herz rein zu erhalten und in der 
Tugend Fortschritte zu machen, muß man die Geistessammlung bewahren. 
Man darf der Einbildungskraft nicht gestatten, überall herumzuflattern und 
an unnützen, schädlichen oder gefährlichen Dingen zu naschen, man muß seine 
Neugierde bezähmen und nicht alles sehen, lesen und hören wollen. Das alles 
gilt schon in der rein natürlichen Ordnung. Deshalb hielten es schon die 
griechischen Philosophen für eine Grundforderung des Strebens nach Weis 
heit und Tugend: Ertrage und entsage stustine, abstine; Epictet, Manuale). 
In höherm Grade gilt selbstverständlich diese Pflicht der Selbstverleugnung 
für diejenigen, die Schüler des kreuztragenden Heilandes sein wollen, und 
ganz besonders für diejenigen, die nach höherer Vollkommenheit streben. 
Hauptfeinde in diesem Streben sind die Trägheit und Feigheit, die großmütig 
überwunden werden müssen, wenn man Christus ernstlich nachfolgen will. — 
Obwohl die Selbstüberwindung alle Menschen durch das ganze Leben begleiten 
muß, ist sie doch besonders notwendig für die Anfänger im Tugendstreben, 
also für die Jugend. Ein großer Teil der Pädagogik besteht in der An 
leitung zur Selbstüberwindung. Die Jugend muß angeleitet werden, alles 
Böse und Niedrige im eigenen Herzen zu bekämpfen und alles Gute und Edle 
zu pflegen. Dazu ist Selbstüberwindung notwendig. Man nennt das heute 
vielfach Willensbildung, aber das ist nur ein neues Wort für eine 
uralte Sache. 
Fünftes Buch. 
Das natürliche Sittengesetz. 
Erstes Kapitel. 
Begriff und Dasein des natürlichen Sittengesetzes. 
Wir haben uns bisher in der sittlichen Ordnung so weit umgesehen, 
daß wir jedem im allgemeinen sagen können, was gut und bös sei. 
Aber ist diese sittliche Ordnung in unser Belieben gestellt, so daß wir 
uns danach richten dürfen oder nicht, wie es uns gefällt? Ob ich mich 
einer Mode, einer Kunsttheorie anbequemen will, hängt ganz von meiner 
Willkür ab. Verhält es sich auch so mit der sittlichen Ordnung? Oder 
ist es vielmehr unsere Pflicht, sie zur Richtschnur unseres Lebens zu 
machen? Das ist die Frage, mit der wir uns jetzt zu beschäftigen haben.
	        
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