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Doch ist hier bei äusserer Uebereinstimmung ein innerer Unterschied hervorzuheben:
Gregorius wird erhöht, weil er sich aussergewöhnlicher Busse für Verschuldung unterzieht,
Oedipus hingegen wird, da auch seine Vergehen mehr „erlitten“ als „verübt“ sind (totcov^otoc
[ jiäXXov 7] 8s5paxoxa), erhoben zur gerechten Vergütung für unverdientes Leiden:
teoXXüv yap av xat p.aT<xv m^uaTov Cxvoup.svov
TtaXiv 09 s Scap.wv Si'xouoc au£oi (V. 1565 f.).
Der Schluss der Gregoriuslegende bietet ein Schönes, freundliches Bild: die Wieder
vereinigung von Mutter und Sohn. Ja auch seinem Vater erwirbt Gregorius zugleich Gnade:
auch erwarp er sinem vater claz,
daz er den stuol mit im besaz,
dem niemer fr Hude zegät (V. 3783 ff.) —
so dass die ganze Familie, die so schwer gesündigt und so schwer gelitten hat, nun für ewig
im Himmel vereinigt ist.*)
Werfen wir nunmehr noch einen Blick auf die Gregoriuslegende im Ganzen, namentlich
auf den religiösen Gehalt derselben, so dreht sich Alles um die Sünde des Menschen und
die göttliche Gnade. Die Tiefe der Sünde und die Tiefe der Gnade — das sind die Angel
punkte; zwischen beiden steht als Vermittlerin die Busse.
In Sünde verfällt der Mensch, im Gegensatz zu dem Fatalismus der Oedipussage,
durch freien Willen, im Gegensatz zu der Verführung seitens der Gottheit durch die Verführung
des Teufels. Nur wird letzterem doch etwas zu viel Macht eingeräumt, wogegen die „böse
Lust des eigenen Herzens“, welche nach Jac. 1,14 als das wichtigste Moment erscheint, nicht
immer genügend hervorgehoben wird. Somit ist die Motivirung theihveise eine zu äusserliche,
zu wenig innerliche, wie namentlich bei dem zweiten Sündenfall der Mutter, was dann zu
psychologischen Unwahrscheinlichkeiten oder mindestens zu Lücken in der Entwickelung führt.
Ein ähnlich äusserliehes Verfahren tritt auch bei der Anrechnung der Sünde hervor.
Während es unleugbar einen grossen Unterschied macht, ob jemand wissentlich oder unwis
sentlich in Sünde geräth, wird hier ebenso wenig wie zunächst in der antiken Sage darauf
Rücksicht genommen, sondern die Sünde immer rein objectiv angesehen und voll angerechnet,
der zweite Incest ebenso gut wie der erste. Um dies einigermassen zu rechtfertigen, müssten
die etwanigen sündlichen Beweggründe, welche zu jener Ehe verleiten konnten, Ehrgeiz (auf
Seiten Gregor’s), Leichtsinn und Fleischeslust (auf beiden Seiten), ganz besonders hervorge
hoben werden; das geschieht aber nicht, wenigstens durchaus nicht in genügendem Masse.
*) Bech und Fistes, welche hier bei dem „Vater“ an den Abt denken, sind offenbar im Irrthum, Einmal wäre
die Bezeichnung^, sinem vater “ für den Abt, der doch nur sein geistlicher Vater ist (V. 965), zu kahl, und dann bedarf
der Abt, der selber ein frommer Mann (gotes tritt V. 846) ist, gar nicht dessen, dass Gregorius für ihn eintritt.
Wohl aber bedarf dessen sein leiblicher Vater, der vor Vollendung seiner Herzensläuterung und Busse dahinge
storben ist. Zum Ueberfluss wird dies durch die Fassung der französischen Legende bei Luzarche bestätigt:
Gregoire —
a cui Deus fist enor tant graut,
que ses pechez lui pardona,
e por Tamor de lui sauva
son pere e s a mere ensament,
Uebrigens tritt hier, wie auch schon in der Inschrift der Tafel (V. 581 ff.)} die katholische Lehre von den iiber-
fliessenden Verdiensten (merita superabundantia') der Heiligen hervor, welche Anderen zur Ergänzung ihrer eigenen
nicht ausreichenden Werke zu Gute kommen. Zum Schlüsse fordert der Dichter sogar die Leser auf, mit ihm diesen
heiligen Mann als Fürbitter bei Gott anzurufen.