Full text: Gregorius auf dem Steine, der mittelalterliche Oedipus

Kaum ist das Kind ausgesetzt, so schickt ihm der süsse (d. i. gütige, freundliche) Christ, 
j mehr als gnädig ist, den rechten, günstigen Fahrwind. „Unser Herrgott der gute“ behütet 
das Kind in Sturm und Wellen, bis er es wohlbehalten ans 1 Land sendet. Auch in der Kloster 
schule ist Gott mit ihm, und sein Segen wird ihm in reichem, ja wunderbarem Masse zu Theil. 
Der Knabe erblüht leiblich und geistig in der schönsten Weise. Und dass Gott der Spender 
alles dessen ist, wird ausdrücklich gesagt, freilich mit merkwürdigem Anklang an die alt 
germanische Mythe: 
Got erlaubte dem Wunsche über in, 
dciz er lip unde sin 
meistert nach sim tuende (V. 1091 ff.) 
(Der „Wunsch“ ist nämlich ursprünglich Wuotan, in dessen Hand alle höheren Güter stehen 
s. Grimm, Myth. S. 125 ff.) 
So hätte sich Gregorius ungestört entwickeln und sein Leben hätte ruhig dahinfliessen 
können, wenn er nicht, durch Weltsinn verleitet, den treuen Rath seines väterlichen Freundes 
verschmäht und das Kloster verlassen hätte. Trotzdem zieht Gott seine Hand nicht von ihm 
ab: er erfüllt die Bitte, mit welcher Gregorius sein Schiff besteigt (V. 1697: daz ist des ich 
got ie bat, daz er mich sande an die stat, da ich ze tuone funde). Obgleich er dann seine 
Mutter freit und jeden Tag Gott „mit Sünde betrübt“ (V. 2122), so hat dieser doch Geduld 
mit ihm. Und nach Entdeckung seiner Schuld, da er in eine Wüste zu gelangen wünscht, 
führt ihn Gott zu dem Fischer, welcher ihn auf den Felsen bringt. Dort fristet ihm „der 
tröstgeist von kriste“ (V. 2947) das Leben, bis dann seine Erlösung folgt und Gottes Segen 
nun wieder in Strömen der Liebe auf ihn „den gotes trut" (3248) niederfliesst (daz der 
gereite gotes segen disse reinen mannes pflac mit vlize naht unde tac). 
So geleitet ihn Gott durch sein Leben, welches somit als ein fortlaufender Beweis der 
göttlichen Huld und Liebe erscheint. 
Dem entsprechend ist denn auch das Gepräge beider Sagen im Ganzen. Grossartig ist 
die Oedipussage, durchtobt von dem Gewitter heftiger Leidenschaften, wie es freilich die 
Tragödie verlangt — dabei schroff und herb, herb insbesondere „König Oedipus“, eine 
Tragödie des Pessimismus: „Weh, Geschlechter der Sterblichen, wie muss ich gleich dem 
Nichts euch im Leben rechnen! Denn welcher Mann nimmt ein besser Glück dahin, als eines: 
sich glücklich zu wähnen und dann, mitten im Wahne, zu stürzen? Ja, dein warnendes Bild, 
dein feindseliges Geschick, armer Oedipus, mahnt nichts Irdisches glücklich zu preisen.“ So 
klagt erschütternd der Chor nach dem jähen Sturze seines edlen, hochverehrten Herrschers. 
Und als die letzte nothwendige Folgerung aus einer so trüben Lebensanschauung ertönt aus 
dem „Oedipus auf Kolonos“ (V. 1224 ff.) das Wort: Das Beste ist nie geboren zu sein, 
das Nächstbeste, wenn man geboren ist, so schnell als möglich wieder von hinnen zu gehen. 
Viel sanfter und milder ist die Legende — fast möchte man sagen: idyllisch-friedlich, 
namentlich in ihrem Ausgang. Die Donnerschläge, mit welchen dem Dulder Oedipus sein Ende 
und damit seine Erhöhung angekündigt wird, andererseits die Glockenklänge, welche den 
Gregorius bei seiner Annäherung an Rom begrüssen und seine Erhebung gleichsam feiern, sind 
bezeichnend für den Character beider Sagen überhaupt. 
So verdient denn die Gregoriuslegende, so sehr auch der höfische Dichter in der Kunst 
der Behandlung dem Griechen nachsteht, allerdings nicht die vornehme Misachtung, mit welcher 
unter Andern Gervinus auf sie herabblickt; ein Katholik mag sie sogar eine „Perle der mittel
	        
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