Full text: Aufsätze, Reden und Briefe

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Und endlich wünschen wir Minister zu haben, die unser 
volles Vertrauen genießen. Heute ist es in das Belieben des 
Kaisers gestellt, wen er in die höchsten Vertrauensstellungen 
berufen will. Das kann gefährlich werden. Wenn er z. B. Herrn 
v. Kiderlen-Wächter als Reichskanzler einsetzen würde! Wäh 
rend bei der Besprechung der Veröffentlichung des Kaisers 
im Reichstage die Volksvertreter in gespannter Erwartung 
an dem Tische des Bundesrates standen, fand dieser Herr 
den Mut, das Auswärtige Amt dadurch zu „retten“, daß 
er von den vielen Qeschäftsnummern und den vielen Akten 
sprach, mit denen das Amt zu tun habe. Das Volk hat nicht 
allein mitzuraten, sondern auch mitzutaten. Der Wille des 
deutschen Volkes muß zum Gesetz werden. Deutlich genug 
hat das deutsche Volk gesprochen. Der Reichskanzler hat, 
während die Forderungen im Reichstage vorgetragen wurden, 
verlegen zur Decke hinaufgeschaut. Alle Reichskanzler 
schauen ja nach oben. Eine Zusicherung haben wir nicht 
bekommen können. Besser wird es erst, wenn wir den 
Reichskanzler zwingen, auch einmal nach unten, nach dem 
Volkswillen zu schauen. 
Im gleichen Augenblick, in dem durch das Verhalten 
eines einzelnen das deutsche Volk in die schwerste Gefahr 
gebracht worden ist, im gleichen Augenblick verlangt die 
Regierung vom Volke 500 Millionen neue Steuern. Wenn 
nun das Volk der Regierung erklärte: Wir bewilligen keine 
neuen Steuern, bevor dem Volke neue Rechte gewährt werden, 
dann wäre es nicht möglich, die Finanzreform durchzu 
führen. In allen Zeiten ist ein politischer Fortschritt nur 
erzielt worden bei Geldverlegenheiten der Herrschenden. Die 
englische Revolution, die französische Revolution, auch die 
friedlichen Wahlrechtsreformen sind auf diese Weise zu 
stande gekommen. Die Sozialdemokratie hat den bürger 
lichen Parteien im Reichstage den einzig gangbaren Weg 
gewiesen. Wir wagen nicht, zu hoffen, daß sie diesen Weg 
beschreiten werden Für uns Sozialdemokraten ist die 
Aufgabe eine doppelt schwere, aber auch eine doppelt dank 
bare. Wir sind seit langem im Vordertreffen gestanden. 
Nach den Auswüchsen des persönlichen Regiments haben wir 
jetzt den Boden gewonnen, auf dem das Volk seine Rechte 
zu finden wissen wird. Wir sind mitten in der Entwicklung 
verfassungsmäßiger Zustände, und wenn das deutsche Volk 
nicht nachgibt, wenn die Massen wach bleiben, so wird das
	        
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