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Heldenverehrung
Junge Garde“, 1. Juni 1906
Kein Mensch kann „Geschichte machen“, selbst wenn er
an Wissen und Willen Tausenden überlegen ist. Wenn auf
einem Apfelbaum noch unreife Früchte sind, wird auch ein
Riese, der schüttelt und rüttelt, kein genießbares Obst her>-
unterholen können. Wenn Lassalle 50 Jahre früher gelebt
hätte, wäne er nicht imstande gewesen, in die Herzen der deut
schen Arbeiter Funken der Begeisterung zu werfen. Aber zu
allen Zeiten lebten Männer und Frauen, die das geschichtlich
Notwendige erkannten und Freiheit und Leben für große Ziele
opferten. Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sondern auch
Helden. Wir nennen ihre Namen voll dankbarer Liebe.
Wir überschätzen sie nicht, wir wissen, daß ihr Tun und
Denken nur so frei war wie der Flug eines Vogels im Käfig.
Sie konnten nicht hinauskommen über die Grenzen, die ihnen
Land und Zeitalter gezogen hatten. Aber wir wollen auch die
Bedeutung der Persönlichkeit nicht unterschätzen. Wie oft
müssen wir aus dem Mund von Leuten, die unsern großen
Meister Karl Marx mißverstanden haben, Redensarten hören
wie: „Die Verhältnisse werden das schon machen“, oder:
„Das bringt die Entwicklung“. Das ist natürlich Unsinn. Die
Verhältnisse sind keine unsichtbare, geheimnisvolle Kraft,
sondern sie bestehen hauptsächlich aus den Kämpfen in den
Gesellschaftsklassen. Sie bestimmen die Entwicklung, wenn
die Zeit erfüllt ist. Der schwäbische Dichter Ludwig Pfau
sagt einmal: „Die Freiheit schüttelt man nicht aus dem
Aermel wie eine Kaiserkrone, und sie kommt auch nicht für
die, die die Hände in den Schoß legen. Seien wir also nicht
gleich orientalischen Fatalisten die Knechte der Ereignisse,
sondern wie deutsche Männer die Schmiede unseres Schicksals,
Was auch kommen mag, jedenfalls sind unsere Bestrebungen
Vorarbeiten für die Zukunft. Die Geschichte ist unsere Vor
sehung, das Recht ist unser Papst, und der freie Wille ist
unser Kaiser. Die Vernunft allein ist von Gottes Gnaden, sie ist
mächtiger als alle Fürsten der Erde; ihr Wille wird geschehen,
und zu uns kommen wird ihr Reich — Amen.“ Die Fähigkeit,
für eine große Sache zu streiten, zu leiden und zu sterben,
ruht in zahllosen Menschenherzen. Die russischen Helden
haben es uns aufs neue bewiesen. Ihr stolzes Beispiel winkt
uns wie ein Leuchtturm.