Paragrana 14 (2005) 1
Akademie Verlag
Christof Kalb
Natur - Sprache - Kultur.
Friedrich Nietzsches Skizze der anthropologischen Grundlagen
sprachlichen Handelns
In der Sprachtheorie des 19. Jahrhunderts bildet sich (besonders nachdrücklich
bei Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schleiermacher und Gustav Gerber) die
Einsicht in die sprachliche Verfassung des Menschen als Subjekt theoretischer und
praktischer Vollzüge. Friedrich Nietzsche gibt einem solchen Gedanken ein
anthropologisches Fundament, indem er die sprachliche Konstitution des Men
schen als gattungsspezifisches Merkmal erläutert: Es ist das naturgeschichtliche
Erbe eines chaotischen, aber formbaren Antriebspotentials, das den Menschen
unter den Zwang einer sprachlichen Selbstbildung stellt. Die humanspezifische
Koppelung von kognitiven und praktischen Vollzügen mit Sprache erlaubt, auf
der Höhe der Kultur, die Neustrukturierung von menschlichem Verhalten, das
seine natürliche Instinktsicherheit eingebüßt hat. Der Mensch läßt sich als ein
Wesen deuten, welches das Leben auf der riskanten Schwelle zwischen Natur und
Kultur abgesetzt hat: Aus der geschlossenen Welt triebhaft gesteuerter Verhaltens
orientierung freigesetzt, findet er sich in einer offenen Welt vor, die ihn mit einem
Chaos von unspezifisch gewordenen, aggressiven Antrieben konfrontiert. Im
Hinblick auf diesen evolutionären Bruch im Ausgang aus der Naturgeschichte
begreift Nietzsche die Menschwerdung als einen Bildungsprozeß, in dessen
Verlauf die Sprache als Mittel der Abwehr gegen eine desintegrierende Triebstruk
tur eingesetzt wird.
In drei Schritten soll Nietzsches Skizze der anthropologischen Grundlagen
sprachlichen Handelns rekonstruiert werden:
1. Der Artikel wird in einem ersten Schritt die naturgeschichtliche Aus
gangssituation der Hominisation beleuchten. Nietzsche zufolge ist der
gattungsgeschichtliche Übergang von der Natur in die Kultur motiviert
durch ein Zerbrechen der im höher entwickelten Tierreich noch intakten
Triebstruktur.
Auf diese „Disgregation der Antriebe“ antwortet in Nietzsches Argumen
tationsskizze die Sprache: Sie soll die in der naturhaften Ausgangssitua