Paragrana 14 (2005) 1
Akademie Verlag
Sarah Bösch
Ursprünge einer historisch-anthropologischen Sprachreflexion:
Wilhelm von Humboldt, Silvestre de Sacy und die Societe asiatique
Als Paradigma eines historisch-anthropologisch fundierten Sprachdenkens und
gleichsam als ihr historischer Bezugspunkt firmiert in der Historischen
Anthropologie der Sprache, wie sie von Henri Meschonnic und Jürgen Trabant
vertreten wird, das Werk Wilhelm von Humboldts (1767-1835).' Das von dem
älteren der beiden Humboldt-Brüder entworfene Projekt eines gleichermaßen
philosophischen wie empirischen „vergleichenden Sprachstudiums“ ist historisch,
weil es Sprache primär als Sprachen, d.h. in ihren verschiedenen Ausprägungen als
historisch gewachsene Einzelsprachen betrachtet und anthropologisch, da diese
Sprachen wiederum in verschiedenen Dimensionen (kognitiv-semantisch, semio-
tisch, kommunikativ) auf den Menschen bezogen gedacht werden. Von primärem
Interesse für einen solchermaßen anthropologisch denkenden Sprachwis
senschaftler ist die Frage, wie die Menschen ihre universelle Aufgabe der Sprach-
und Gedankenbildung und deren Kommunikation vermittels individueller Texte
in verschiedenen Epochen und Kulturen umsetzen.
Humboldt war jedoch im Europa seiner Zeit nicht der Einzige, der die Erfor
schung der „Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues“ mit dem Ziel
betrieb, Erkenntnisse über die in den Sprachen sedimentierten „Weltansichten“
und damit Einsichten über den Menschen in seinen vielfältigen kulturellen und
kognitiven Erscheinungsformen zu gewinnen. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zu
Humboldts linguistischen Studien wurde in Paris 1822 eine Gesellschaft zur
Erforschung der Sprachen Asiens und des Orients^ gegründet, zu welcher der
preußische Adelige — vor allem vermittelt durch seinen in Paris ansässigen Bruder
Alexander — als „associe correspondant“ bis zu seinem Tod 1835 zahlreiche
' Vgl. Meschonnic (1982), Trabant (1998).
In den Statuten wurden darunter folgende Sprachen gefasst: „1° Les diverses branches (tant
en Asie qu’en Afrique) des langues Semitiques. 2° L’Armenien et le Georgien. 3° Le Grec mo
derne. 4° Le Persan et les anciens idiomes morts de la Perse. 5° Le Sanskrit et les Dialectes
vivans derives de cette langue. 6° Le Malais et les langues de la presqu Ile ulterieure et de
l’Archipel oriental. 7° Les langues Tartares et le Tibetain. 8° Le Chinois (Societe asiatique
o.J.: 31).