Full text: Lebens-Fragen

14 
müssen wir einsehen, daß wir nur ein kleines Staubkörnchen im Weltall 
sind, und daß doch auch in uns ein Geist lebt, mit dem wir die ganze Welt 
umfassen können. 
* 
Im ersten Kolleg schrieb ich in mein Heft: „Man kann hundert 
Kollegia als Student der Philosophie hören, ohne Lebensweiser zu werden. 
Die beste Lehranstalt ist die Fakultät des Lebens, und ihre Professoren 
heißen Arbeit und E r f a h r u n g." Und noch immer zahle ich Lehr 
gelder an diese beiden Professoren, wie einst im ersten Semester. 
* 
Ein exzellenter Gelehrter sollte sich nie zur Exzellenz herabniedrigen 
lassen. Solches unangebrachte Einrangieren in fremde Zonen sieht eher 
einer Erniedrigung als einer Erhöhung ähnlich. 
* 
Lichtbringen und Schlägebekommen ist Menschenregel seit Prome 
theus Zeiten. Wie die Geier des Buchstabenglaubens seine Leber zer 
fleischten, so zehren Glaubenswut und Unduldsamkeit noch immer am 
Lebensmarke manches Denkers und Freiheitsverkünders. — Nicht jeder 
kann wie Prometheus die ganze Welt erleuchten, aber jeder kann von 
dem heiligen Feuer eine Flamme weitertragen. Wer nicht mit dem 
elektrischen Lichte der Begeisterungsfähigkeit in tausende von Herzen 
dringen kann, der nehme eine einfache Petroleumlampe oder eine schlichte 
Wachskerze. Und bei wem es nicht dazu reicht, der kann auch mit dem 
bescheidenen Oelstümpfchen einem einsamen Meuscheukinde die Nacht er 
hellen. Dieses geistige Erleuchten ist das würdigste und schönste Geschenk 
der Menschenliebe. Oder hätte Prometheus das Feuer nicht bringen 
sollen, weil einmal ein unvorsichtiges Kind mit Zündhölzern spielen und 
vielleicht Unheil anstiften könnte? 
* , * 
Wahrheit: 
Die Wahrheit flickt und modelt nicht, sie erkennt mutig und schreitet 
furchtlos einher. Die Sophistik grübelt und erwägt, sie denkt ängstlich 
vorbei und macht blendende Kunstsprünge. Sicher überwindet die Wahr 
heit alle Hindernisse, während die Sophistik über die kleinste Wegschwie 
rigkeit stolpert. Dort feste Grundlagen, hier schwankende Scheingründe. 
-i- 
Wahrheit bleibt Wahrheit, auch im schmutzigen Gefäße des Feindes- 
* 
Es gibt nur eine Wahrheit. Sie ist dieselbe in Hütten und Thron 
sälen. Gefährlicher ist es dem Volke zu schmeicheln, als den Großen 
der Erde. Das Volk muß den Sauerstoff der Wahrheit einatmen, ihm 
verdirbt der Nebel der Schmeichelei die Lunge und den Blutkreislauf. 
Für das Geschäftsunkosten-Konto der Thronbesitzer ist Wort-Weihrauch 
ein täglicher Gebrauchs-Posten. Das freie Volk gönnt den verschiedent- 
lichen gekrönten Berufskollegen diese eitle Vergnügungssteuer. 
* 
Die sogenannten gefährlichen Wahrheiten von heute sind die selbst 
verständlichen Wahrheiten von morgen. Sie sind für den ersten Besitzer 
Schmerzensbringer und Beseliger zugleich, und sie sind die wahren Kul 
turträger. So sind auch der Zweifel und der Unglaube von heute oft 
das anerkannte Weltgesetz von morgen. 
* 
„Irre ich, so irre ich m i r," sagte Hiob. Aber die Wahrheit sagt: 
„Irre ich, so irre ich der ganzen M e n s ch h e i t." Denn Irrtum ist der 
dolus eventualis (fahrlässige Verletzung) der Wahrheit, der immer neue 
und verhängnisvolle Irrtümer und Trugschlüsse nach sich ziehen muß. 
*
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.