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„Na, Hermännchen, das Picheln hast du dir da drüben wohl
doch nicht abgewöhnt?"
„Ich denke ja gar nicht daran," erwiderte er lachend, prüfte
die Vertrauen einflößende Etikette und schlürfte behaglich den
lieblichen Trank.
Frau Schlegel hatte sich auf ihren Platz am Fenstertritt
gesetzt, er hatte sich's in einem der großen grünen Sammet-
lehnsessel bequem gemacht.
Nach langer Zeit, nach vollen zwölf Jahren, saßen sie sich
nun gegenüber und prüften sich gegenseitig und sahen sich in
die Augen, um in ihnen zu lesen, ob ihnen die lange Trennung
Glück oder Unglück, Zufriedenheit oder fehlgcschlagene Hoff
nungen gebracht habe.
Die Aehnlichkeit zwischen den Geschwistern war unverkenn
bar. Dieselben gütigen und klugen Augen, die gleichen Hand-
bewegungen, derselbe Schnitt des Gesichtes, in das das Leben
allerdings schon einige scharfe Linien gekritzelt hatte.
Hermann Giescbrecht sah sich um und sagte dann lächelnd:
„Ich sehe wahrhaftig noch manches von den alten Möbeln,
die am Hackeschen Markt standen. Da sind ja auch die Kupfer
stiche. Es ist doch noch vieles, was an den seligen Vater er
innert."
„Ja, die Aeußerlichkeiten!" erwiderte Frau Schlegel, und
er hörte aus der Schärfe des Tones, daß sie auch dem Toten
nicht den grausamen Zwang hatte verzeihen können, unter dem
sie ihr Leben hatte dahinkeuchen sehen.
Hermann Giescbrecht nahm aus seiner Vrusttasche ein altes
Zigarrenetui.
„Kennst du das? Das hast du mir genau vor fünfundzwanzig
Jahren zu Weihnachten geschenkt. Die Perlenstickerei bat sick-
gut gehalten, aber . . ."
Und da er seiner Schwester ängstliches Gesicht sah, steckte er
es lachend wieder ein.