Full text: Kurzgefasstes Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie für Mediziner und Juristen

Psychopatbhie. 
manischen oder konstitutionell-depressiven Naturen reden 
könnte: Die einen sind von Jugend auf lebhaft, heiter, stets mit sich 
zufrieden, vielgeschäftig, jagen mannigfachen Interessen und Plänen nach, 
nur ungenügend gezügelt durch sittliche Erwägungen; dabei mögen sie 
wohl zeitweise eine gesteigerte Willensenergie entfalten, sind aber vor- 
wiegend sprunghatt und ohne Ausdauer. Die anderen sind von jeher 
zaghaft, entschlusslos, menschenscheu und ohne Selbstvertrauen, neigen 
zu pessimistischer Betrachtungsweise und zum Grübeln. Die Unter- 
scheidung von dem manisch-depressiven Irresein ergibt sich aus der Vor- 
geschichte und dem dauernden Fehlen sicherer Zeichen von Geistesstörung. 
Die starke Selbstüberschätzung mancher abnorm erregbaren Psycho- 
pathen verbindet sich mit einer ausgesprochenen Nörgel- und Zanksucht, 
macht sie zu unbeliebten Gesellschaftern und schwierigen Untergebenen 
und verwickelt sie in beständige Streitigkeiten und Prozesse. Bei der 
kleinsten wirklichen oder vermeintlichen Unbill werden diese Pseudo- 
querulanten von ihrer Leidenschaftlichkeit zu ganz unverhältnis- 
mässiger Gegenwehr fortgerissen, verbeissen sich, sind keiner Aufklärung 
mehr zugänglich, lassen aber lediglich Einseitigkeit des Urteils und viel- 
leicht vorübergehend einzelne überwertige Ideen, dagegen keine echten 
Wahnvorstellungen erkennen. 
2. Haltlose Willensschwäche führt zu schwankender Abhängigkeit 
von den jeweiligen äusseren Verhältnissen, entbehrt der erforderlichen 
Hemmungen gegenüber allen auftauchenden Verführungen und Ver- 
lockungen. . Vielfach bestehen Unreife des Urteils, Mangel an Ausdauer 
mit Arbeitsscheu, selbstgefälliges, egoistisches, reizbares Wesen, Neigung 
zu zeitweisen Verstimmungen, Gelegentliche Reue erweist sich als nicht 
nachhaltig genug, um auch nur vor der nächsten Versuchung zu schützen. 
Geschlechtliche Begierde und Vergnügungssucht spielen eine unheilvolle 
Rolle. Der Lebenslauf lehrt, dass trotz der besten Vorsätze und trotz 
mitunter guter Anlagen eine Entgleisung unvermeidlich auf die andere 
folgt: Stellungen werden aufgegeben, der Beruf grundlos gewechselt, die 
unüberlegtesten Streiche vollführt; wiederholte Zusammenstösse mit dem 
Strafgesetze bereiten der Familie die schwersten Unannehmlichkeiten. 
Vielfach kommt es bei solchen Haltlosen, aber auch bei den 
Erregbaren mit Selbstüberschätzung und Unternehmungsdrang zu 
Bildern, welche an die Pseudologia phantastica der Imbezillen und 
Hysteriker erinnern. Man hat da von psychopathischen Schwindlern 
gesprochen: eine ungewöhnlich lebhafte Einbildungskraft und Sucht, zu 
prahlen und von sich reden zu machen, treiben den Betreffenden zum 
Lügen und Erfinden der tollsten Märchen, zu Verkleidungen, Annahme 
falscher Namen und Titel, Aufführung förmlicher Kommödien, ohne dass 
immer ein ersichtlicher Vorteil durch alle diese Mühe und Gefahren er- 
langt würde. Grossmannssucht und die Freude an der Verstellung selbst 
scheinen bisweilen die Haupttriebfedern zu bilden. 
So betrat ein Psychopath, der nie Soldat gewesen war, in der Uniform eines 
Generalarztes ein Lazarett und besichtigte dasselbe, ohne als Schwindler entdeckt 
zu werden, KErst später wurde er wegen Zechprellereien in einem vornehmen Gast- 
hause verhaftet. 
In der Regel freilich verbindet sich mit der von Jugend auf vor- 
handenen Unwahrhaftigkeit und Oberflächlichkeit des Denkens allmäh- 
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