i5i —
Der Fehler — sagt ihr — besteht darin, weil man die
Scbriftstellen nicht versteht, wie sie zu verstehen sind. Da
zu werden weitlauftige Wissenschaft, gründliche Kenntniß
der Ursprachen, unermüdekes Betrachten und Gegeneinan
derhalten erfodcrt.
Sey eö; aber ihr habt, ja unter euch und in einer je
den Parthey erleuchtete Männer, denen eö an diesen ge
lehrten Hülfsmitteln nicht mangelt. Warum sind eben die
se die ersten, die hitzigsten, die unversöhnlichsten im Strei
te? Warum vermag die Bibel nicht wenigstens zwischen
ihnen den Frieden zu stiften? Ist dieses nicht ein klares
Kennzeichen, daß die Religionsstreitigkeiten noch einer an
dern Entscheidung bedürfen, um beygelegt zu werden?
Ja! wie soll die Bibel entscheiden; und die entzweyten
Gemüther zur Einigkeit zurückführen? Die Zweifel ent
stehen meistentheilö auö ihr selbst. Eö wird über ihr Da
seyn, über ihre Theile, über ihre Stellen, und über den
Sinn ihrer Stellen disputirt. Sie redet nicht, erklärt,
vertheidigt sich nicht selbst. Sie laßt sich von Jedermann
drehen und auslegen, wie eö seinem Eigensinne beliebt, der
sie unrecht versteht; so giebt sie auch im Gegentheile recht
verstanden, kein Zeichen des Beyfalls. Hundertmal hinter
einander gefragt, sagt sie weder mehr noch weniger, als
was sie anfangs gesagt hat, kein Wörtchen, kein Pünkt
chen, kein Strichelchen setzt sie hinzu. Daö erste Wort,
worüber sich der Streit erregt hat, bleibt immer auch das
letzte, worüber sich derselbe verewigt. Und daher findet
stets ein listiger, und in Sophistereyen geübter Kopf etwas
darinnen, womit er sich schützen, und auf seine Gegner
Ausfalle wagen kann.
Laßt uns tiefer eindringen. In der göttlichen Schrift
sind Buchstab und Sinn, wie beym Menschen Leib und
Seele. Beydeö ist wohl zu betrachten, beydes genau von
einander zu unterscheiden. Sollte ihr das Amt eines
Schiedsrichters anvertraut seyn, so müßten die Entschei
dungen, entweder nach dem Buchstaben, oder nach dem
Sinne geschehen; aber weder dieses, noch jenes läßt sich
denken.