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„ Der Buchstabe tobtet " spricht der Apostel *), und
will damit andeuten, daß inan in der äußersten Gefahr
steht, tödtliche Irrthümer zu umfangen, wen« man sich
allzu fest beym buchstäblichen Verstände hält. Und wirklich
so hat der Buchstabe die Juden gctödtet, welcheWe pro-
Phetischen Weissagungen von dem Messias zu sinnlich ge
nommen, den figürlichen Ausdruck wörtlich verstanden; und
Len innerlichen Geist gänzlich verkannt; so die Sa bellia-
ner, welche nach den Worten „ich und der Vater sind
eins **)" die Verschiedenheit der Personen zwischen dem
Water und dem Sohne, so die Arianer, welche nach je
nen „der Vater ist größer, als ich ***)" die wesentliche
Gleichheit des Sohnes mit dem Vater, so die Macedo-
nianer, welche nach jenen „der Geist erforschet alle Din
ge , auch die Tiefen Gottes ***'*)" die Gottheit des heiligen
Geistes, „so die Pelagianer, welche nach jenen „der
Sohn wird die Missethat des Vaters nicht tragen *****) " die
Erbsünde gelang net haben. Ja, man behauptet mit Recht,
daß auf diese Art alle, die von jeher auch nur in einem
Stücke, von der wahren Lehre der christlichen Kirche abge
wichen, durch den Buchstaben sind getödtet worden, weil
fie immer einen biblischen Text nach dem buchstäblichen Ver
stände übel ausgelegt, und darauf ihren Irrthum gegründet
haben.
„Aberder Geist, der macht lebendig *♦****)" das heißt:
der Sinn, welcher unter der Hülle des Buchstabens verbor
gen liegt, enthält die Lehre, woraus das wahre Leben für
die Seele quillt. Verwaltet also vielleicht die Bibel, un
ter dieser Beziehung das Richteramt? — Wieder nicht.
Die Ursache liegt am Tage. Der Streit trifft gar zu oft
eben diesen mit dem Buchstaben verhüllten Sinn, und —
was besonders zum Beweise dient — er entsteht daraus,
weil viele Schriststellen für sich dunkel sind; und noch meh
rere ungeachtet des klaren Ausdrucks, uns dennoch in der
Ungewißheit lassen, ob sie wörtlich oder figürlich, weissa-
*) r. Kor. 5, 6. **) Ioh. jo, 30. ***) Eb e 11 d. 14,
*'**, >. Kor. 3, ic. *«**) Ezkch. i%, 30. "**»') 3. Kol'.r,6.