Der Richter, den wir suchen, ist weder die natürliche
Vernunft, sie mag durch philosophische, kritische, politische
Wissenschaften wie immer aufgeklaret seyn, noch der be
schriebene Privatgeist, noch der weltliche Fürst, weil keiner
aus ihnen die gehörige Vollmacht aufzuweisen hat.
Wer also? —
Wer? die Kirche. Denn warum befiehlt uns der Er
löser die Kirche zu hören, und alle die, welche eö nicht
thun wollen, so zu verabscheuen, wie vormahls die Heiden
und Zöllner, das ist, die Ungläubigen und offenbaren
Sünder, von den Juden verabscheut wurden *)? Müssen
wir die Kirche hören? Nun! so hat sit das Recht zu spre
chen. Verdienen wir im widrigen Falle, wie die Ungläu
bigen behandelt zu werden? Nun! so hat sie auch das Recht
in den Glaubenssachcn zu sprechen.
Aber der Ausspruch der Kirche, soll er aus den Auö-
sprüchen aller einzelnen Glieder derselben — sammt oder
sonders — bestehen? Die christlichen Gemeinen, welche
anfiengen das erste in Uebung zu bringen, erfuhren bald
davon den Unfug, ja das Umnögliche. Und das zweyte
räumte wieder einem jeden Privaten die Freyheit ein, sich
nach seinem Eigensinne ein Glaubenssystem zu schmieden.
Wenn ich sage, der Staat hat die Macht Gesetze zu ma
chen, und sie zu erklären, ist Nieinand so dumm, daß er
diese Macht einem jeden einzelnen Bürger des Staates zu-
muthe. Und der Regent würde sehr widersinnig handeln,
wenn er die Auslegung der Gesetze der Willkühr seiner Unter
thanen überließe, weil er damit einen jeden zum Richter m
seinem eigenen Handel bestellte, und so die öffentliche Ruhe
und Einigkeit, die Sicherheit und Gerechtigkeit ans seinem
Gebiete verbannte. Also auch folgt aus der richterlichen
Gewalt der Kirche nicht, daß alle einzelnen Glieder dersel
ben daran Thcrl nehmen sollen, und daß ihnen allen der
weiseste Stifter die Auslegung der Schrift, die Bestim
mung der göttlichen Ueberlieferungen, mzd die Schlichtung
der Rcligionshändel überlassen hat.
*) Matth, ig. 17.
lkhilos. d« Rtligivn 6. BaaL. J.i