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lebensvoll und herzenswarm, so ehrlich abgerackert und
doch immerzu voller Treue zu dem Boden, auf dem er
stand. Als ersten Gast durste unsere kleine Häuslichkeit
ineinen Vater empfangen. Er kam ganz allein. Irgendein
Zufall hatte ihm den Abend freigegeben. Nun gehörte er
uns. Die vier Treppen zu erklimmen, mochte ihm vielleicht
schon schwerfallen. „Der Weg zu eurem Olymp ist steil!"
meinte er etwas atemlos. Aber von der Aussicht über die
Gärten unter deni rotglühenden Abendhimmcl war er ent
zückt. Und eine Freude, die ihn fast bewegte, entlockte ihm
gleich der Anblick von Gretes Piano im Wohn- und Speise
zimmer. Er selbst besaß ja seit Jahren kein Klavier mehr,
wußte nun kaum, ob seine Finger nicht alle Geläufigkeit
verloren hätten, aber schließlich ließ er sich doch bewegen,
sich vor die Tasten zu sehen. „Bissel nachdenken!" sagte er
zuerst. Dann spielte er das Impromptu von Schubert. Er
hatte noch immer den schönen Anschlag von einst. Wir
schlugen ihm Beethovens Sonaten auf. Aber er spielte ja
am liebsten auswendig. („Inwendig!" siüsterke ich meiner
Frau zu.) Das war ein unvergeßliches Erlebnis, dieser
Abend. Vater versprach, bald einmal wiederzukommen.
Dazu kam es aber nicht - er lebte ja kein Jahr mehr. Auf
Gretes Verwandtschaft, selbst auf den reichen Kommerzien
rat aus Leipzig und dessen Damen, die ihn bei einem Feier-
tagsmahl in der Wohnung meiner Schwiegermutter kennen
lernten, hatte er einen starken Eindruck gemacht. „Ja, wenn
dein Mann sich einmal so entwickeln könnte . . .!" hatte
Tante Klara nachdenklich zu ihrer Nichte beim Abschied
gesagt. Jedenfalls verdanke ich Vater den bedeutend gün
stigeren Eindruck, den Gretes zuerst unbegreifliche Wahl
nachträglich auf ihren weiteren Familienanhang ausübte.
In einem Punkt konnte meine Frau mir nicht folgen.