Full text: Gottgesandte Wechselwinde

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Ansorge war fein Pedant. Eine fortschrittliche Befreiung 
von philiströsen Einschränkungen machte er im eigenen 
Schaffen beherzt mit. Aber er folgte der natürlichen Ent 
wicklung von Stufe zu Stufe. Die stümperhaft sich aus 
tobende Gewaltfreiheit der Atonalen dagegen empfand er 
amusisch. Er konnte sich nie dazu entschließen, ein „Werk" 
dieser neuesten Berühmtheiten, die meist in den jüdischen 
Blättern über den grünen Klee gelobt wurden, in fein 
Programm aufzunehmen. Sein umfassender Spielplan 
reichte von Bach bis weit über Liszt hinaus. Aber sein 
Herz gehörte der Romantik. Zumal wenn er Schubert 
spielte, löschte er in uns jeden nüchternen Werktagsrest 
aus. Dann war es Sonntag. - 
Nicht nur in ernsten Morgenmusiken durften wir 
schwelgen. Wir folgten auch jetzt noch, wo der Ernst des 
Lebens unser armes Deutschland oft genug belastete, sehr 
gern dem Ruf zu fröhlichem Spiel. Früher hatten wir 
immer zum 21. März so viele unserer Freunde, als das 
Haus an Gästen fassen konnte, „zur Eröffnung des Früh 
lings" gebeten. In der schon traditionellen Einladung 
hieß es: „Man erscheint mit Blumen im Haar und einem 
Frühlingsgedicht in der Hand!" Unsere Töchter hatten 
kleine, leichte Blumenkränzchen gewunden, die von ihnen 
jedem Ankömmling aufs Haupt gedrückt wurden. Der 
Frackanzug wirkte dadurch gleich viel weniger feierlich. 
Und schlechte Frühlingsgedichte gab es nie zu hören. Wer 
Vortragstalent befaß, erschien gut vorbereitet: da gab es 
neue Kompositionen zu hören, Spottgedichte, Ensemble 
sätze, das meiste von künstlerischem Wert. Karl Clcwing, 
damals noch jung und schlank, elektrisierte die Damenwelt 
mit seinem Heldenbariton, oder Centa Bre war aus 
Hamburg herübergekommen, um mit ihrem Münchener
	        
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