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Ein zweites Leben
Aiemeyer hatte keine Zeit für mich. Sie gehörte feinen
Schulaufgaben. Er begriff es nicht, daß ich so gar nicht
„schuftete". Das mußte man doch, um vorwärtszukommen.
Als ich ihm von meiner Waldläuferei erzählte, lachte er
mich aus. Laufen, sich müde laufen, - wenn man nicht ge
schickt wurde?
Eines letzten herrlichen Sommertags entsinne ich mich,
eines Sonntags. Nach dem Kindergottesdienft in der
Kleinen Kirche, der um zwölf Uhr endete, hatte man noch
das Mittagessen vor sich, das aber jetzt immer sehr rasch
abgetan war, weil die Eltern nicht daran teilnahmen, -
dann dehnte sich der furchtbar lange, beschäftigungslose
Tag bis zur Dunkelheit. Wie immer, holte ich mir ein
Buch aus Vaters menfchenverlaffener Studierstube und zog
los . . . An dem Mohnfeld südwestlich von Durlach legte ich
mich müde gelaufen ins Grüne. Da sang es nun in einem.
Man hörte die Musik, die man früher hatte spielen dürfen,
und neue siel einem ein. Ja, wenn ein Instrument da
gewesen wäre, um sie wiederzugeben! Solche Stille sonst
ringsumher. Ich grollte Vater innerlich, daß er noch immer
krank und dadurch mein Leben so einsam war; und so heiß
sehnte ich mich nach ihm. Ich lag da am Mohnfeld, rupfte
natürlich Kapseln ab, brach sie aus, aß davon, sonnte mich,
ward immer müder, dann legte ich den Kops ins Gras zu
rück, blickte zum Himmel auf - und zum erstenmal sah ich
mit vollem Bewußtsein die Schönheit der Wolken. Wie sie
segelten, leuchteten, wie sie sich ballten, lösten, wie sie
Gebirge darstellten, freie, weite Häsen, große Köpfe, Tor
bogen, Burgen, Urweltticre . . . Das war so eine Stim
mung, um die seltsamsten Märchen zu erfinden. Herrlich