$ 2. Die Aufgaben des Staats.
And
% Ü
M
ol
i. Wie über die Entstehung des Staats, so bewegte sich die
ältere Staatslehre auch über den „Zweck“ des Staats in extrem
entgegengesetzten Vorstellungen. Der Staat sollte nach der einen
Meinung die gesamte „Glückseligkeit“, die äussere und innere
Wohlfahrt der Menschen begründen (Allseitigkeit der Staats-
zwecke, — älteres Naturrecht: Locke, bes. Christian Wolff), Nach
den andern sollte er nur Schutz, Sicherheit der Bürger nach
aussen und im innern schaffen (Einseitigkeit des Staatszwecks
— Rousseau, bes. Wilhelm v. Humboldt). Vermittelnd fordert der
deutsche Idealismus (Schelling, Hegel) vom Staat die „Vervoll-
kommnung“ des Bürgers, unter bes, Betonung der sittlichen,
ästhetischen Vervollkommnung. Aber mit dem Verlassen der meta-
physischen Betrachtungsweise (ob. Einleitung III) erledigt sich auch
dieser Streit. Von einem „Zweck“ des Staats lässt sich im strengen
Sinn nur reden vom Standpunkt einer zwecksetzenden Persönlich-
keit, also wenn man den Staat als eine Veranstaltung der Menschen
oder als eine Einsetzung der Gottheit ansieht. Betrachtet man
dagegen den Staat wissenschaftlich nur als die von Natur ge-
gebene Lebensform der zusammenwohnenden Menschen, so
kann man nur von einer natürlichen Aufgabe des Staats, wie
von der Aufgabe des Einzelmenschen reden, bezw. von einer natür-
lichen Fähigkeit, Diese besteht erfahrungsgemäss in der Be-
thätigung der gemeinsamen (physischen, ökonomischen,
geistigen) Kräfte der Staatsbürger zur Befriedigung‘ ihrer ge-
meinsamen (öffentlichen) Bedürfnisse (vgl. Einleitung I). Andrerseits
aber lehrt die Erfahrung, dass sich diese Bedürfnisse allgemein-
gültig nicht bezeichnen lassen... Sie wechseln vielmehr unaus-
gesetzt. nach dem Wohnort, der Lebensweise, Wirtschaftsweise,
geistigen Veranlagung, Bildung, nach dem Grad der äusseren
Sieherheit oder Angefochtenheit des Volks.
| II. Hiernach löst sich auch das sog. Problem des Staatszwecks
in Wahrheit in .die Frage auf, welche Aufgaben dem einzelnen
historisch gewordenen Staat in einem bestimmten gegebenen Zeit-
punkt obliegen. Diese Aufgaben bemessen sich nach den jeweiligen
Zwecken, die die Bevölkerung oder die massgebenden Volksgruppen