einen bedeutenden Teil der jungen Generation vergiftet hat. 
Man hätte meinen können, dass die jüdische Frage in Deutsch- 
land, besonders nach der zuletzt erfolgten Gleichstellung der 
Juden in Preussen, auf immer begraben sei. Haben doch 
gerade die besten Männer Deutschlands sich des früheren 
Verhaltens ihres Volkes gegen die Juden geschämt und offen 
darüber ihre Freude geäussert, dass diese Zeit num der Ge- 
schichte angehört. Aber weit gefehlt! Unter den vielen 
Manövern, die darauf berechnet waren, der liberalen Partei 
bei den Wahlen eine Niederlage zu bereiten — jener Partei, 
die noch vor nicht langer Zeit Arm in Arm mit dem Kanzler 
für die Selbständigkeit des Staates gegen die Ansprüche der 
römischen Kurie gekämpft und mutvoll im Parlament den 
Schwindel jenes Börsenfiebers aufgedeckt hat, das die pom- 
merschen Junker gewaltig gepackt hatte — erwies sich als 
nicht ganz erfolglos auch eine specielle Diversion gegen die 
Juden, bei der das Feuer in dieser Richtung auf allen Punkten 
eröffnet wurde. Die besten Traditionen der deutschen Litte- 
ratur und Philosophie wurden missachtet, und man vergass, 
dass Deutschland sozusagen eines der vornehmsten Rechte 
seiner nationalen Selbständigkeit einbüsst, wenn es auf die 
absolute Gewissensfreiheit verzichten sollte. Die Proteste. der 
grössten Koryphäen der deutschen Wissenschaft und des 
deutschen Gedankens, Proteste von Männern wie Mommsen, 
Kirchhoff, Döllinger u. s. w. wurden ausser acht gelassen, und 
dies alles lediglich zu dem Zweck, um einige Sitze im Parla- 
ment für die Erzfeinde des Kanzlers von gestern — die Ultra- 
Konservativen — zu erobern . : 
Der Wahlkampf ist nun beendet, einer antisemitischen 
Bewegung für Wahlzwecke bedarf es nicht mehr, und sie 
beginnt nun mit sichtbarer Geschwindigkeit sich wieder zu 
verlaufen. Doch wird sie noch für lange Zeit in den Köpfen 
und Herzen der Volksmasse ihr Gift und in den Seelen der 
Vertreter der deutschen Wissenschaft und des deutschen 
Denkens das Gefühl der Beschämung zurücklassen. 
Wir berühren diese traurige Erscheinung übrigens nicht 
nur mit Bezug auf Deutschland. Wäre die antisemitische 
Bewegung nur auf Deutschland beschränkt, dann würde sie 
Juden in Russland. 
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