Full text: Die Praxis des gleitenden Übergangs in den Ruhestand

Erwartungen, Plänen oder auch Hoffnungen im Gespräch thematisiert 
werden. Die biographischen Thematisierungen bleiben dabei aber nicht auf 
die berufliche Sphäre beschränkt, sondern umfassen den gesamten 
Lebenszusammenhang. 
Da die Definition fast jeder Situation sowohl durch die Erfahrungen 
früherer Situationen als auch die Erwartungen künftiger Situationen sehr 
wesentlich mitbestimmt wird, darf sich die Rekonstruktion aktueller 
Handlungen und Handlungsdeterminanten nicht auf die jeweils gegebene 
Situation allein beziehen, sondern muß den gesamten Lebensweg der 
Befragten umfassen (Vergangenheit und Zukunft).*7 
Ziel der biographischen Methode ist es, die Einwirkungen vergangener 
Erfahrungen und die (damit zusammenhängenden) künftigen Erwartungen 
auf aktuelle Situationsdeutungen und deren Einfluß auf das Handeln der 
Erzählenden aufzuzeigen. Daß auf der Grundlage biographischen Materials 
das Verstehen aktueller Handlungsorientierungen ermöglicht wird bzw. 
ohne biographisches Material aktuelle Handlungen nie angemessen 
erfaßbar wären, zeigte sich z.B. in dem Projekt "Arbeit und Altern" des 
Biographieforschers Martin Kohli sehr deutlich. Bei Arbeitnehmern, die 
man hinsichtlich ihrer Möglichkeiten bzw. Wahrnehmungen ihrer Mög- 
lichkeiten im Zusammenhang mit Pensionierung befragte, wurde deutlich, 
daß "die Deutungen und Praktiken der älteren Arbeitnehmer nur mit 
Bezug auf die Erfahrungsaufschichtung seit Beginn ihres Berufslebens und 
die bisherige biographische Dynamik angemessen erfaßbar sind. Auch die 
Arbeitnehmer greifen in ihren Deutungen ihre vergangenen Erfahrungen 
auf, z.B. im Sinne einer Bilanzierung, als selbstverständliche Grundlage für 
ihr Festhalten an Relevanzen, die aus der aktuellen Situation nicht ver - 
ständlich wären, oder umgekehrt als Grundlage für eine Umorientie — 
rung." 
Die Interpretation der biographisch — narrativen Interviews verdeutlicht, 
daß der Ruhestandswunsch sowohl von kulturellen Normalitätserwartungen 
geprägt wird, z.B. im Hinblick auf die Internalisation als üblich erachteter 
Verrentungsgrenzen, als auch "zugleich ein Ausdruck der Selbstbehauptung 
37 In diesem Zusammenhang ist auch ein Hinweis von Bahrdt (1975) beachtenswert, 
der darauf hinweist, daß die Arbeiter nicht nur eine erzählenswerte Geschichte 
haben, sondern daß die Erzählform als solche eine sehr viel adäquatere soziale 
Äußerungsform darstellt als die gewöhnlich eingesetzten standardisierten Interviews 
(Vgl. Deppe (1978), S. 9); Alheit, P. (1983), S. 206). "Was liegt nun eigentlich 
näher, als daß der Forscher dem Befragten eine Chance gibt, sich die allgemeine 
Lebenssituation, gerade in ihrer zeitlichen Dimension zu vergegenwärtigen und hier - 
für jene Artikulationform zu wählen, die für diese Vergegenwärtigung die angemes - 
senste und gewohnte ist" (Bahrdt (1975), S. 13). 
Kohli, M. (1984), S. 11. 
38 
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