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An den Küsten des mittelländischen Meeres bei Neapel
ragen ungeheure Gebirgsstöcke. Es sind Kalkpanzer toter Wurzel
füßler. Jedes Tier sonderte seinen Kalk ab und erstickte an
seinem Panzer. Es starb an seinem Werk. Und sein Werk war
seine Notwendigkeit, llcbrig blieben die gewaltigen Felsenmassen.
Sie ragen gespenstisch in die Jahrhunderte. Denkmale erfüllten
Lebens.
V.
^Wissen kann nur, wer nicht lebt; wer teil
hat, weiß nicht? Laotse.
Hier nun lüften wir für einen Augenblick den Schleier von
dem gewaltigsten Selbstbetrnge aller Zeiten; dem Selbstbetrug
der christlichen Zeitalter: von der Vertausckmng der Wahrheit
mit dem Leben; der Vermengung einer zurechteweisenden Aus
deutung des Elements mit dem Elementarischen selbst.
Ueberall wo Leben ist, da ist Schranke in Liebe und HaßA
Wo Liebe und Haß herrscht, wird als grausam hochmütig
empfunden der alles Lieben und Hassen auswertende und in
sich einschlingende Geist. Nun aber kommt die christliche Kultur
und baut auf dem großen Urwiderspruch: Gott ist der Geist und
die Liebe! Ich bin das Leben und die Wahrheit!!
Auch nicht der verwegenste Fluch vermochte die wahrhaft
satanische, die ganze Kulturwelt durchziehende Lüge zu brand
marken, welche ans der Vertauschung des Lebens mit dem
Menschlich-Geistigen gewachsen ist.
Daß die ältesten Mystiker und Väter immer und immer
wieder das Denken bezeichnen als die Pest, den Krebs, die
Hölle des menschlichen Geschlechts; daß sie den Gott des Geistes
gleichsetzen dem Satan und die Vernunft eine Hure nennen,
man kann alle diesen Widersinn der christlichen Jahrhunderte
nur dann ans der Tiefe begreifen, wenn man groß ward im
Irrgarten der europäischen Philosophie, in welchem (seit Des-
cartcsH das Seiende als ein im Bewußtsein Gegebenes, das Er
leben als denkendes Erleben betrachtet wird und die Worte:
Leben, Anschauung, Erfahrung u. s. w. unaufhörlich zum Mittel
st
1 kama, Begier; eros und eris, Liebe und Kampf.
^ cogito ergo sum, d. h. Ich denke also bin Ich (Sein — Gegenstand
von Bewußtsein).