Full text: Das Tragische: die Erkenntnisse der griechischen Tragödie

79 
Händen leicht wie ein Blatt: wozu lebt man also noch? Eine Tra 
gödie ist das Leben, das also ausgeht, und das in einem Atem 
vernichtet, was es schuf. Aber das Tragischeste ist vielleicht, dar 
über nachzudenken und sich an diese Gedanken zu verlieren. Denn 
dieser Gedanke vermag das Leben bis ins Letjte zu vergiften. Es 
gibt nur eine Rettung vor der abgründigen Melancholie, welche 
die Vergänglichkeit auslöst: das Leben im Augenblick, die naive 
und ungelöste Hingabe an jede Lebenssekunde. Dies anempfiehlt 
Amphitryon jenem Chor thebanischer Greise, der schon vorher 
Erwähnung fand: »Ihr greisen Freunde, / das Menschenleben 
währt nur eine Spanne, / und doch, es wird der köstlichste Ge 
nuß, / wenn man den Tag dahinlebt unbekümmert, / was uns der 
Abend bringe. Denn die Zeit / vermag nicht uns’re Wünsche zu 
erfüllen, / sie kommt, gibt was sie hat, und ist vorüber.« So 
bäumt sich naturgemäß das Leben gegen sein Ende auf; nicht 
sterben, nicht fortmüssen, lieber unter den armseligsten, trost 
losesten Bedingungen hier leben, denn in der Unterwelt als Heros 
wandeln! Bekannt ist aus Homer die Verzweiflung Achills, der 
lieber im Erdenlicht ein Taglöhner sein will al§ König im Hades. 
Ganz Entsprechendes äußert, im letjten Drama des Euripides, 
Iphigenie: »Der raset, der den Tod herbeiwünscht. Besser / in 
Schanden leben als bewundert sterben.« Das schlägt jeder Heroen 
ethik ins Gesicht; der nackte Wille zum Leben ist stärker als 
alles; das Leben ist ja das einzige, was man hat, sterben kann 
man noch: früh genug — warum sollte man sich nach dem Nichts 
drängen, dessen man doch ohnehin gewiß ist? Nicht sich opfern, 
nicht das einmalige, unwiderrufliche Dasein ins Vage werfen, 
sondern leben, leben! 
Aber dieser radikale Trieb zum Leben hat auf der anderen Seite 
seltsame Ahnungen des Todeswissens aufblühen lassen, Worte 
einer unerbittlichen, messerscharfen Resignation werden laut. 
Diese Worte suchen ihresgleichen in der Literatur der Völker. 
Hier wird es ausgesprochen, still und ohne Scheu, daß der Kern 
des Lebens der Tod sei, und daß der Mensch nur geboren werde, 
um wieder zu sterben. »Was sind wir Menschen?« fragt Sophok 
les, um dann festzustellen: »Alles, was auf Erden lebt, / Ist nur 
ein Schein des Lebens, nur ein Schattenbild.« Mit anderen Wor 
ten: Die Wirklichkeit der Welt, welche uns so stabil erscheint, 
ist brüchig und porös, und wenn wir von der Dauer der Dinge 
sprechen, so handelt es sich dabei um eine Halluzination unserer 
Sinne. »0 Kinder des Erdenstaubs, / Nur ein Schatten, ein 
bloßer Schein, / Ist der Sterblichen Lebenszeit. / Und irdische 
Herrlichkeit / Ist ein flüchtiger Wahn und Traum, / der uns wieget 
in süßen Schlaf, / Bis zum Grabe wir sinken.« Ähnliches spricht 
Aischylos aus: »Das menschliche Geschlecht denkt für den Tag; 
ist mehr / Nicht als des Rauches Schatten an Beständigkeit.«
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.