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Händen leicht wie ein Blatt: wozu lebt man also noch? Eine Tra
gödie ist das Leben, das also ausgeht, und das in einem Atem
vernichtet, was es schuf. Aber das Tragischeste ist vielleicht, dar
über nachzudenken und sich an diese Gedanken zu verlieren. Denn
dieser Gedanke vermag das Leben bis ins Letjte zu vergiften. Es
gibt nur eine Rettung vor der abgründigen Melancholie, welche
die Vergänglichkeit auslöst: das Leben im Augenblick, die naive
und ungelöste Hingabe an jede Lebenssekunde. Dies anempfiehlt
Amphitryon jenem Chor thebanischer Greise, der schon vorher
Erwähnung fand: »Ihr greisen Freunde, / das Menschenleben
währt nur eine Spanne, / und doch, es wird der köstlichste Ge
nuß, / wenn man den Tag dahinlebt unbekümmert, / was uns der
Abend bringe. Denn die Zeit / vermag nicht uns’re Wünsche zu
erfüllen, / sie kommt, gibt was sie hat, und ist vorüber.« So
bäumt sich naturgemäß das Leben gegen sein Ende auf; nicht
sterben, nicht fortmüssen, lieber unter den armseligsten, trost
losesten Bedingungen hier leben, denn in der Unterwelt als Heros
wandeln! Bekannt ist aus Homer die Verzweiflung Achills, der
lieber im Erdenlicht ein Taglöhner sein will al§ König im Hades.
Ganz Entsprechendes äußert, im letjten Drama des Euripides,
Iphigenie: »Der raset, der den Tod herbeiwünscht. Besser / in
Schanden leben als bewundert sterben.« Das schlägt jeder Heroen
ethik ins Gesicht; der nackte Wille zum Leben ist stärker als
alles; das Leben ist ja das einzige, was man hat, sterben kann
man noch: früh genug — warum sollte man sich nach dem Nichts
drängen, dessen man doch ohnehin gewiß ist? Nicht sich opfern,
nicht das einmalige, unwiderrufliche Dasein ins Vage werfen,
sondern leben, leben!
Aber dieser radikale Trieb zum Leben hat auf der anderen Seite
seltsame Ahnungen des Todeswissens aufblühen lassen, Worte
einer unerbittlichen, messerscharfen Resignation werden laut.
Diese Worte suchen ihresgleichen in der Literatur der Völker.
Hier wird es ausgesprochen, still und ohne Scheu, daß der Kern
des Lebens der Tod sei, und daß der Mensch nur geboren werde,
um wieder zu sterben. »Was sind wir Menschen?« fragt Sophok
les, um dann festzustellen: »Alles, was auf Erden lebt, / Ist nur
ein Schein des Lebens, nur ein Schattenbild.« Mit anderen Wor
ten: Die Wirklichkeit der Welt, welche uns so stabil erscheint,
ist brüchig und porös, und wenn wir von der Dauer der Dinge
sprechen, so handelt es sich dabei um eine Halluzination unserer
Sinne. »0 Kinder des Erdenstaubs, / Nur ein Schatten, ein
bloßer Schein, / Ist der Sterblichen Lebenszeit. / Und irdische
Herrlichkeit / Ist ein flüchtiger Wahn und Traum, / der uns wieget
in süßen Schlaf, / Bis zum Grabe wir sinken.« Ähnliches spricht
Aischylos aus: »Das menschliche Geschlecht denkt für den Tag;
ist mehr / Nicht als des Rauches Schatten an Beständigkeit.«