Full text: Das Tragische: die Erkenntnisse der griechischen Tragödie

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druck, deren grenzenlosem Leid eine nahezu abstrakte Erkenntnis 
fähigkeit entspricht: »Die Welt sieht auf den Schein, nicht auf 
den. Wert; / ein Blick ist ihr genug, den zu verfolgen, / der nichts 
zuleid ihr tut, und den sie nie / zu prüfen sich die Mühe nahm.« 
Da keiner den andern kennt, so besteht die Unterhaltung der 
Menschheit darin, sich gegenseitig nach Kräften zu täuschen. Die 
Freude, die wir heucheln, vielleicht ist sie nur die Maske des 
Hasses, und unter der Oberfläche der Trauer verbirgt sich die Ge 
nugtuung. Wie dem auch sei: keiner traut dem andern, und dies 
mit Recht, da wir es in keiner Kunst so weit gebracht haben als 
in der Kunst der Verstellung. Aischylos sagt: »Viele Sterbliche 
halten den Schein nur wert / Und verkennen die Grenze des Rech 
ten. / Mitseufzen, wenn einer im Unglück ist, / Macht keinen 
Beschwer; der Schmerzensstich / Dringt ganz gewiß nicht zum 
Herzen. / Mitfreude heuchelt man, tut wie beschenkt, / Und rasch 
wird die Miene zum Lächeln verzerrt.« Das ist also der Mensch; 
hören wir auf, uns bezüglich seiner Rechtschaffenheit noch wei 
teren Rlusionen hinzugeben! — 
Zwischen Hybris und Ohnmacht schwankt die Schöpfung, schwankt 
insbesondere der Schöpfung Krone: der Mensch. Bald ist er be 
reit, den Himmel zu stürmen, ihm weichen selbst Götter; von Ge 
schlecht zu Geschlecht klingt des Sophokles Hymnus auf die 
menschliche Herrlichkeit! »Wohl ist vieles gewaltig. Der Mensch 
/ Dennoch gewaltiger, beugt es hinab.« Diese Hybris und alles, 
was sich aus ihr ergibt, ist tragisch, denn sie impliziert dem 
Menschen das Gefühl einer Vollkommenheit, welche er nicht be 
sitjt. Niemand erfährt das eher als er selbst; das Schicksal reißt 
ihn herunter vom Throne, den er ^ch anmaßt, und stürzt ihn ins 
Nichts. So ist denn der Mensch, der sich als Herr der Welt dünkt, 
zugleich das ohnmächtigste aller Wesen, ein Blatt im Winde, wel 
ches der Anhauch des Schicksals spielend hin- und herwirbelt. Die 
vollendete Hilflosigkeit bleibt die Kehrseite der Hybris. Er, 
dessen Substanz Vergänglichkeit ist, hat keine Sicherungen in der 
Zeit, und die Götter versagen, sich ihm. »Welcher Beistand kommt 
vom Vergänglichen? Vergaßest / Du denn ganz der schwindeln 
den Unmacht, der traumgleichen, / Die in Fesseln legt der Sterb 
lichen blindes Ge- / schlecht? Nimmer wird ja die / Waltende 
Ordnung des Zeus von / Menschlichem Planen erschüttert« 
(Aischylos). 
Tragisch ist der Mensch im Übermut, tragisch in der Ohnmacht, 
tragisch sind alle Positionen, welche irgendwie zwischen diesen 
Extremen liegen. Mit andern Worten: was immer der Mensch be 
ginnt, sein Verhängnis kommt auf ihn zu, und es hängt alles da 
von ab, ob er ihm zu begegnen weiß.
	        
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