$ 8. Harmonie und Disharmonie in der seelischen Entwicklung. 79
brechen sich diese eine neue Bahn, Am nächsten liegt die
Lösung, daß sie sich zu anderer Zeit und’an anderem Orte, ‚aber
nicht in anderer Weise äußern. Mit Recht sagt Hebbel in
seinen „Nibelungen“:
Wers Handwerk kennt, der weiß, daß der Soldat
im Feld nur darum unbedingt gehorcht,
Weil er im Stall zuweilen trotzen darf,
Und willig läßt er ihm das kleine Recht,
Die Feder so, die Spange so zu tragen,
Das er mit seinem Blut so teuer zahlt.
Ein maßvolles, richtig verstandenes Sichaustoben ist für
den jungen Menschen um so notwendiger, je straffer sonst die
Zügel sind, die man ihm anlegt. Bei größerer Reife macht der
Mensch nicht selten das Gefühlsleben des ihm ursprünglich als
eine Art Gegner gegenüberstehenden Vorgesetzten gewisser-
maßen zu seinem eigenen und kommt so über entgegengesetzte
Regungen leichter hinweg. So spricht etwa der Kutscher, der in
fremden Diensten ‚steht, mit Befriedigung und Stolz von sei-
nem Fuhrwerk und seinen Pferden und behandelt sie dann
ohne innere Widerstände so sorgfältig wie sein Eigentum.
Verschlungene Wege schlägt oft in unbewußter Weise die
Seele ein, wenn der Affekt zu gewaltsam unterdrückt wird.
Fre u® und seine Schule sprechen hier nicht unpassend, aber
mit” gänzlich unbegründeter Einschränkung dieser seelischen
Erscheinung auf das sexuelle Gebiet. oder die Libido von eim-
geklemmtem Affekt. Die Wahrheit dieser Lehre liegt darin,
daß die Seele starke Gefühle, die sie gegen den sie auslösen-
den Gegenstand nicht äußern kann, unwillkürlich auf einen
anderen, ja auf völlig andersgeartete Gebiete überträgt, die mit
jenen Affekten ursprünglich nichts zu tun hatten. Dadurch er-
scheinen jene Gefühle selbst so stark verändert, und zwar in
der Regel verfeinert oder, wie man sich auszudrücken pflegt,
sublimiert, daß man ohne genauere, äußerst schwierige Unter-
suchung ihren Ursprung nicht mehr zu erkennen vermag. Die
Anfänge ‚dieser hochbedeutsamen Schiebung im Seelenleben
sind jedem aus jenen schon ©oben gestreiften Fällen bekannt,
in denen :sich etwa der Affekt des Zornes, weil er sich ‚aus
irgendwelchen Gründen gegen den wirklichen Zornerreger nicht
entladen kann, auf den zufällig nächsten Gegenstand richtet,
z.B. den Unglücksboten, der am Unglück nicht die geringste