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wurden oft alle Details der laufenden diplomatischen Angelegen
heiten besprochen. Das Wesen eines jeden Problems sofort er
fassend und es in helles politisches Licht setzend, gab Wladimir
Iljitsch in diesen Unterhaltungen stets eine glänzende Analyse
der diplomatischen Lage, und seine Ratschläge (häufig entwarf
er auch den Text für die Antwort an eine andere Regierung)
waren ein Muster der diplomatischen Kunst und Elastizität.
Mein erster Kontakt mit ihm auf dem Gebiete der Außen
politik fiel in die Periode der Debatten nach dem deutschen Ulti
matum. Uns allen war der Uebergang von den früheren, mit der
illegalen Tätigkeit der revolutionären Partei verbundenen An
sichten zu dem politischen Realismus einer an der Macht stehen
den Regierung außerordentlich schwierig, und im Augenblick
meines ersten Gespräches mit Wladimir Iljitsch war ich noch
nicht so weit, mich der Notwendigkeit der Unterzeichnung des
„gemeinen“ Friedens mit den Deutschen zu fügen. Indessen voll
zog ich diese Wendung doch, und ich fuhr nach Brest-Litowsk.
Als wir eine der letzten Stationen vor Pskow erreichten, waren
wir gezwungen, infolge der durch die zurückflutende zaristische
Armee entstandenen Schwierigkeiten fast 24 Stunden zu warten.
Hier erhielten wir nun von Wladimir Iljitsch ein Telegramm,
dessen Inhalt ungefähr folgender war: „Sie schwanken. Das geht
nicht.“ Wir antworteten ihm, daß wir gegen unseren Willen auf
gehalten seien und daß wir bei der ersten Möglichkeit Weiter
reisen würden.
Wir kamen von Brest zurück im Augenblick der Abreise der
Regierung von Petrograd (jetzt — Leningrad) nach Moskau. Hier
in Moskau trat ich sofort mit Wladimir Iljitsch in engste Berüh
rung und arbeitete bis zum Tage des gegen ihn verübten Atten
tats eigentlich immer mit ihm zusammen. Sein unvergleichlicher
politischer Realismus bewahrte uns oft vor Fehlern, die andere,
Eindrücken leicht unterliegende Genossen oft begingen. Nach
dem Brester Frieden drangen die deutschen Truppen, ohne sich
um die Demarkationslinie zu kümmern, immer weiter vor, vor
allem in der Ukraine, die noch keine festgelegte Grenzen hatte
da die deutschen Truppen die Gouvernementsgrenzen nicht an
erkannten. Dank dem persönlichen Eingriff Wladimir Iljitschs
wurden einige Aktionen verhütet, die von der Panikstimmung