Die gegenwärtige Wachstumsrate kann nicht lange andauern 355
Es ist im Gegensatze zu Malthus behauptet worden, die Erfah-
rung habe gezeigt, die Nahrungsmittelproduktion könne rascher fort-
schreiten, als die Bevölkerung wächst. Sie kann es wohl, aber nur für
eine sehr kurze Zeit. Man hat diesen Fehlschluß aus der Erwägung
gezogen, daß jede Bevölkerung für sich vorsorgen kann. Diese Begrün-
dung fordert Aufmerksamkeit heraus, weil sie auf den ersten Blick
glaubhaft erscheint. Trotzdem ist sie ungültig, wie leicht erwiesen
werden kann.*)
Nimmt man die gegenwärtige Bevölkerung der Erde nur mit 1,5 Mil-
liarden an (was sicherlich eine Unterschätzung bedeutet) und die Fest-
landsoberfläche — mit Ausschluß‘ der arktischen und antarktischen
Festländer — mit 3,3 Milliarden Acres?); nimmt man ferner. an, daß es
durch irgendein Mittel gelänge, diese ganze Fläche so fruchtbar zu ge-
stalten, daß sie pro Acre 22,8 Bushels Getreide hervorbringe, so würde
der ganze jährliche Ertrag 752,4 Milliarden Bushels ausmachen.
In Australien, aber auch anderwärts, ist der durchschnittliche jähr-
liche Getreideverbrauch pro Individuum mit 5,7 Bushels zu veranschlagen,
das bedeutet ein Viertel des oben angenommenen Acreertrags; mit dem
Gesamtertrage und einer dementsprechenden Menge der anderen not-
wendigen Nahrungsmittel könnte eine Bevölkerung von 132 Milliarden
Personen ernährt werden. Bei einer Vermehrungsrate von 0,01%), also
etwas weniger als sie gegenwärtig in den Ländern, die eine genaue
Statistik führen, festgestellt ist, würde es nur rund 450 Jahre dauern,
bis die Bevölkerung so anwächst, daß sie diese Nahrungsmenge auf-
braucht. Aber auch keine im Bereich der Denkbarkeit liegende Stei-
gerung der Weltproduktion kann die Kernfrage irgendwie wesentlich
berühren. Um von etwas Unmöglichem auszugehen, nehme man an,
jedes Acre Land produziere nicht 22,8, sondern das Zehnfache, also
228 Bushels, und die Erzeugung der anderen notwendigen Nahrungs-
mittel halte dem Schritt; auch dann bedarf es nur eines Zeitraumes von
nicht ganz 700 Jahren (681), um die Bevölkerung auf eine solche Höhe
zu bringen, daß sie diesen Nahrungsvorrat. erschöpft. Somit erscheint
die fundamentale Aussage in Malthus’ Lehre erwiesen. Selbst eine
niedrigere Vermehrungsrate als‘ die angenommene würde die Ernäh-
rungsmöglichkeit .in absehbarer Zeit in Frage stellen. Daher wird die
statistische Analyse des Entwicklungsganges der Erdbevölkerung in
verschiedenen Belangen bald eine Angelegenheit von der allergrößten
Wichtigkeit werden.
1) Vgl. L. Hirsch, La theorie de Ia population de Th. R. Malthus, Biblio-
th&que‘ Universelle, No. 252—253 (1916—1917).
2) 1 Acre = 40,4671 Ar; 1 Bushel = 35,28381 Liter.
3) Die Verdoppelungsperioden werden durch Division der nachfolgenden
Zahlen durch die darunterstehenden Vermehrungsraten erhalten (vgl. Il. 21):
0,6966 0,7001 0,7085 0,7069 0,7103
0,01 0,02 0,08 0,04 0,05
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