Full text: Von Bismarck zum Weltkriege

Die russische Balkanpolitik 
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und daher diese Frage nicht akut werden würde 52 ). Bei dieser Gelegen 
heit äußerte der deutsche Botschafter in Wien, Herr von Tschirschky 
zum ersten Male wieder Gedanken über Deutschlands Orientpolitik, die 
von den zuletzt von Bülow festgelegten Gesichtspunkten wesentlich 
abwichen. Er schrieb: „Deutschland ist keine Balkanmacht. Wir haben 
im vergangenen Jahr aus Gründen höherer Politik das Schwergewicht 
unseres politischen Einflusses für Österreichs Balkaninteressen in die 
Wagschale geworfen. Wir werden aber meines Erachtens gut tun, einer 
Wiederholung dieses Vorganges möglichst vorzubeugen. Wir müssen 
uns für die Zukunft freie Hand bewahren und uns so wenig wie mög 
lich in Balkanfragen hineinziehen lassen, schon deshalb, um im psycho 
logischen Moment unsere Stellungnahme frei wählen bzw. so teuer 
wie möglich verwerten zu können 53 )." 
Das Ziel Deutschlands und Österreichs blieb immer die Erhaltung 
und Stärkung der Türkei, während Rußland mißtrauisch jeden Versuch 
zur Verstärkung der türkischen Flotte im Schwarzen Meer oder zur 
finanziellen Kräftigung der Türkei verfolgte. So warnte man die Fran 
zosen, der Türkei eine Anleihe zu gewähren, weil diese sie dazu benutzen 
werde, ihre kaukasische Grenze stärker zu befestigen, wodurch 
Rußland gezwungen werden könnte, Truppen von der deutschen 
Grenze an den Kaukasus zu verlegen. Man suchte dann die Gewährung 
der Anleihe an die Bedingung zu knüpfen, daß die Türkei in Zukunft 
keine militärischen Instrukteure und keine Munition mehr aus Deutsch 
land beziehen dürfe und der Bagdadbahngesellschaft keine weiteren 
Konzessionen mehr erteile. Das türkische Ministerium erklärte solche 
Bedingungen für unvereinbar mit der Unabhängigkeit der Türkei und 
führte sie mit Recht auf russische Einwirkungen zurück. Der Türkei 
wurde die notwendige Anleihe im November 1910 durch ein Konsortium 
deutscher und österreichischer Banken gewährt 5 ^). 
Alles dies zeigt zur Genüge, daß die russische Politik darauf aus- 
ging, jede weitere Ausdehnung des österreichischen Einflusses auf der 
Balkanhalbinsel zu verhindern, jede Stärkung der Türkei zu verhüten 
und ihre allmähliche Aufteilung unter die Balkanstaaten vorzu 
bereiten; sie verhieß denjenigen unter ihnen, die dabei nicht ganz auf 
ihre Rechnung kommen konnten, Entschädigung auf Kosten Österreich- 
Ungarns. 
* * 
* 
Während sich die Lage im Orient immer mehr verschärfte und die 
deutsch-englische Annäherung nicht recht vorwärts kam, starb König * 16 
52 ) Hintze, 24. März, Graf Pöurtales, 2. April. Denkschrift v. Stumms, 
16. April. 
! 33 ) Tschirschky, 1. Mai. 
j 54 ) Siebert 293—302.
	        
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