Marokkofrage; Kiderlens Aktionsplan
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Nachricht kam, daß der Sultan von den Aufständischen genötigt worden
sei, im französischen Konsulat zu Fez Zuflucht zu suchen, meinte der
Kaiser, der sich damals in Korfu aufhielt, man müsse jetzt eine Expedi
tion der Franzosen dorthin zulassen, die übrigens viel Geld kosten und
eine erhebliche Truppenzahl dort festlegen werde. Sollte die Algesiras-
Akte verletzt werden, so könne man ruhig einer anderen Signatarmacht
überlassen, zuerst zu protestieren. Jedenfalls erwarte er von seiner
Regierung, daß sie einem etwaigen Verlangen nach der Entsendung
deutscher Kriegsschiffe nach Marokko entgegentrete. Bethmann sagte
dies auch zu 2 ).
Als die französische Expedition aufbrach, erklärte Kiderlen Herrn
Cambon, wenn die Franzosen dauernd in Fez blieben, würde der
Sultan nicht mehr als unabhängiger Herrscher zu betrachten sein, und
damit eine wesentliche Voraussetzung der Algesiras-Akte fortfallen.
Deutschland behalte sich für diesen Fall völlig freie Hand vor 3 ). Das
selbe wurde auch in einem Artikel der „Norddeutschen Allgemeinen
Zeitung“ vom 30. April öffentlich ausgesprochen.
Kiderlens Aktionsprogramm wurde am 3. Mai folgendermaßen
festgestellt: Wenn die Franzosen Fez besetzt haben, fragen wir sie,
wie lange sie dort zu bleiben beabsichtigen. Halten sie den von ihnen
angegebenen Termin nicht inne, so erklären wir die Algesiras-Akte
für zerrissen und fordern Kompensationen. Da bloße Proteste wirkungs
los sind, schicken wir ein Kriegsschiff nach Agadir, da wir so gut wie die
Franzosen Schutzmaßregeln für Leben und Eigentum unserer Staatsange
hörigen zu treffen berechtigt sind. Agadir soll der beste Hafen Süd
marokkos sein. Wir behalten ihn als Faustpfand, bis Frankreich aus
seinem Kolonialbesitz genügende Kompensationen anbietet. Auf diese
Art, meinte er, könnten wir der Marokkosache eine Wendung geben,
„die die früheren Mißerfolge vergessen machen könnte“. Auch werde
durch einen sichtbaren Erfolg die Stimmung für die bevorstehenden
Reichstagswahlen verbessert werden 4 ).
Welchen Eindruck dies Verfahren auf die Franzosen und die übrige
Welt machen werde, das scheint Kiderlen wenig bekümmert zu haben.
Er hielt es nicht einmal für nötig, unseren Botschafter in Paris um seine
Meinung zu fragen, oder die beste Taktik mit ihm zu überlegen. Was
sollte eigentlich geschehen, wenn Frankreich trotz dieses Vorgehens
keine oder ungenügende Kompensation anbot, was doch immerhin
möglich war? Wollte er dann Agadir auf unbeschränkte Zeit besetzt
halten? Wir werden sehen, daß er sich diese naheliegende Frage erst
nach der Tat gestellt hat. An einen Krieg um Marokkos willen hat er
nicht einen Augenblick gedacht. Er scheint mit naiver Sicherheit vor-
3 ) Der Kaiser an Bethmann, 22. April. Bethmann an den Kaiser, 22.
und 25. April.
8 ) Aufzeichnung Kiderlens, 28. April.
4 ) Aufzeichnung Kiderlens, 3. Mai.