Deutschland und England
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nie recht populär gewesen war, begann sich in unangenehmer Weise
zu verschärfen. Der russische Botschafter Graf Benckendörff warnte
seine Regierung immer wieder nicht zu unvorsichtig vorzugehen, da
man schließlich nicht wissen könne, ob Grey dieser Stimmung nicht
werde weichen müssen. Dieser habe zwar erklärt, daß er persönlich
keine andere Politik machen werde, wie die bisher befolgte, weil er
sie für die allein richtige halte. Aber wenn er gestürzt werde, so könne
niemand wissen, welche Richtung die englische Politik nehmen werde.
In Deutschland war man gegen England wegen der Rede von
Lloyd George und der Enthüllungen des Kapitäns Faber außerordent
lich gereizt. Wenn der Kaiser dem englischen Botschafter Goschen
sagte, immer mehr greife die Überzeugung Platz, daß England jede
Gelegenheit benutze, um der friedlichen Ausbreitung Deutschlands in
der Welt Schwierigkeiten zu bereiten, oder wenn er betonte, daß man
die Hartnäckigkeit Frankreichs in den Marokkoverhandlungen bei uns
wesentlich auf die hetzende Tätigkeit Englands zurückführe, so sprach
er damit nur aus, was die Mehrheit glaubte 2 ). Auch Metternich sagte
den englischen Staatsmännern und dem König selbst, man sei bei uns
überzeugt, daß wir bei jeder europäischen Komplikation England auf
der gegnerischen Seite finden würden; unsere öffentliche Meinung sehe
jetzt in England den hauptsächlichsten Gegner 3 ). Zu einem englischen
Zeitungsartikel bemerkte der Kaiser im November: „Britischer Hochmut
und Neid gegen uns sind die Triebfedern der englischen Politik, die in
mehr oder minder versteckter Weise gegen uns arbeitet.“
Die endgültige Beilegung des Marokkostreits schuf nach Metter
nichs Ansicht die Möglichkeit einer Annäherung, weil dadurch der
einzige Anlaß verschwunden sei, der England zu einem Krieg gegen
Deutschland hätte nötigen können. Man rede zwar auch jetzt davon,
daß ein solcher im nächsten Frühahr kommen werde; aber die leitenden
Kreise seien von einer solchen Auffassung weit entfernt. Im November
1911 meldete er, der Wunsch zur Versöhnung mit Deutschland sei weit
verbreitet; Grey habe ihm selbst gesagt, er hoffe jetzt auf ein besseres
Verhältnis. Nach der Meinung des Botschafters standen wir jetzt
noch einmal am Scheidewege; es sei noch nicht zu spät, die Richtung
zur Aussöhnung einzuschlagen. In einem Privatbrief an den Reichs
kanzler sprach er aber zugleich aus, was ihm trotzdem Sorge machte.
Es war die Agitation für eine neue Vermehrung der Flotte, die inzwi
schen mit voller Macht eingesetzt hatte 4 ).
Zweifellos hatte Herr v. Tirpitz schon seit längerer Zeit den Ge
danken gefaßt, vor Ablauf der Geltungsdauer des alten Flottengesetzes
(1917) eine Novelle einzubringen. Es war ihm sehr unangenehm ge
2 ) Der Kaiser an Bethmann, 12. August. Jenisch an Bethmann, 13. August
1911.
3 ) Metternich, 19. August.
4 ) Metternich, 1., 18., 19. November.