Englische Annäherung an Deutschland
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dorff seinen Eindruck dahin zusammenfassen, daß man in Paris den
Krieg gern sehen werde, während die englische Regierung offenbar
bemüht sei, ihn, wenn irgend möglich, zu vermeiden.
Der Umstand, daß Rußland immer stärker rüstete und den Drei
bundmächten gegenüber auf der Forderung des serbischen Adriahafens
beharrte, während es längst entschlossen war, sie fallen zu lassen, legt
die Vermutung nahe, daß man durch diese Haltung Österreich zu unvor
sichtigen Schritten zu reizen hoffte, die dann als Provokation gedeutet
werden und vielleicht doch noch zur Erlangung der englischen Hilfe
benutzt werden konnten. Die Mahnung Deutschlands, man möge
in Wien stets daran denken, daß man nicht als der provozierende
Teil erscheinen dürfe, war also sehr berechtigt.
Der Schlüssel der Situation lag jedenfalls in London. Hätte Grey
den Verbündeten mit Sicherheit Englands Hilfe in Aussicht stellen
können oder wollen, so wäre der Weltkrieg wahrscheinlich damals
schon ausgebrochen. Grey gab diese Zusage nicht, sondern bemühte
sich gemeinsam mit Deutschland einen Zusammenstoß zu verhindern.
Ja, er tat während dieser kritischen Wochen einen ganz auffallenden
Schritt zur Annäherung an Deutschland überhaupt.
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Botschaftsrat v. Kühlmann, der nach Marschälls Tode bis zur
Ankunft Lichnowskys (Mitte November) Deutschland in London ver
trat, erhielt am 15. Oktober von Grey eine Mitteilung, die ihn zu den
größten Hoffnungen entflammte 33 ). Der Minister ließ ihm durch seinen
Privatsekretär sagen, er sei des langen Haders herzlich müde, wolle die
Hand zu einer herzlichen und dauernden Versöhnung reichen und biete
uns den Ölzweig des Friedens. In der Orientfrage seien die beider
seitigen Interessen völlig identisch und auf Lokalisierung des Konflikts
gerichtet. „Sei durch diese Kooperation in schwieriger Zeit die Intimität
der deutschen und englischen Diplomatie hergestellt, so könnten wir
uns über alle politischen Wünsche und Interessen verständigen. Er
sei zum allergrößten Entgegenkommen bereit und halte ein Zusammen
gehen in China, Persien, der Türkei und Afrika für aussichtsreich.
Der Minister lege Wert darauf zu betonen, daß er dies für einen wich
tigen und entscheidenden Schritt halte und wünsche, daß es auch bei
uns als solcher aufgefaßt werde.“ Kühlmann war überzeugt, daß man in
England die Flottenfrage jetzt nicht mehr als Hindernis für eine An
näherung betrachte. Es sei wieder ein psychologischer Moment
erster Ordnung da; jedenfalls müsse man Grey ausführlich antworten,
da er sonst tödlich verletzt sein werde, um so mehr, weil ihm die
Initiative seiner Natur nach sehr schwer gefallen sei.
33 ) Kühlmann, 15. Oktober.