Englische Annäherung an Deutschland
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Kiderlen vermochte diesen Optimismus nicht voll zu teilen. Zu
nächst, meinte er, habe man es nur mit persönlichen Ansichten Greys,
nicht mit Beschlüssen des englischen Ministeriums zu tun. Auch scheine
er nur unsere Absichten kennen lernen zu wollen, ohne von seinen
eigenen genaueres zu verraten. Er ermächtigte den Botschaftsrat zu
ausführlicher Aussprache über die Balkanfragen, ließ auch 1 erklären,
daß Deutschland an der Zukunft Konstantinopels nur ein sekundäres
Interesse habe, und daß Deutschland hier gern mit England Hand in
Hand gehen wolle. Daran knüpfte er aber das Verlangen, daß alle
weiteren Verhandlungen streng geheim bleiben, daraus hervorgehende
Vereinbarungen aber sofort veröffentlicht und den übrigen Mächten
gegenüber gemeinsam vertreten werden müßten. Ferner sei erforder
lich, daß man sich schon jetzt darüber einige, sieb auch auf anderen;
Gebieten nicht feindselig gegenüberzutreten, soweit nicht etwa Lebens
interessen in Frage kämen. Wir dürften uns nicht lediglich zur Er
reichung momentaner englischer Zwecke ausnutzen lassen, um dann
wieder anderen Beziehungen geopfert zu werden 34 ).
Darin lag doch die Forderung, daß England das Zusammengehen
mit uns im Orient durch eine allgemeine politische Entente und die
tatsächliche Opferung seiner bisherigen politischen Beziehungen er
kaufen sollte. War es anzunehmen, daß Grey darauf eingehen werde,
da er doch wußte, daß unser eigenes Interesse uns in diesem Falle zum
Zusammengehen mit England nötigte? War es klug, jetzt schon derartig
weitgehende Bindungen zu verlangen, anstatt abzuwarten, wie weit
ein momentanes Zusammenarbeiten mit der Zeit führen werde? Im
Grunde widersprach diese Haltung dem von Kiderlen selbst kurz vorher
skizzierten Programm. Auch der Kaiser war mißtrauisch. Im Grunde,
meinte er, strebe England doch nur nach Herstellung des Gleichge-
gewichts, wolle zwischen beiden Gruppen schaukeln und sich 1 daher
nicht an uns binden 35 ).
Kühlmann teilte Grey mit, was ihm befohlen war, und erhielt eine
freundliche Antwort, dahin gehend, daß der Minister erfreut sei und
um häufige Fortsetzung der Konversationen bitte. Auch sagte er Ge
heimhaltung der Besprechungen und gemeinsame Vertretung nach er
zielter Einigung zu. Was die Orientfrage anging, so erklärte Grey jede
Rückgabe bereits befreiter christlicher Gebiete an die Türkei für un
möglich; aktiv werde England nur eingreifen, wenn es sich um die
Zukunft Konstantinopels handle. Sonst werde er jede Lösung an
nehmen, über die Rußland und Österreich einig würden und freue sich,
daß er auf diesem Boden mit Deutschland Zusammenarbeiten könne 36 ).
War diese Annäherung Greys nur ein taktischer Schachzug, oder
34 ) Kiderlen an Kühlmann, 20. Oktober.
35 ) Bemerkung des Kaisers zu Lichnowskys Bericht vom 19. November.
3G ) Kühlmann, 25. und 28. Oktober.