Frage der Demobilisierung
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keine der beiden Mächte offen ihr Zugeständnis machen wollte, bevor
sie nicht der Gegenleistung sicher sei, verzögerten sich die Verhand
lungen darüber monatelang. Dabei vermied man in Berlin alles, was
Österreich hätte verletzen oder in Wien Zweifel an unserer Bundestreue
hätte hervorrufen können.
Die gemeinsame Arbeit schuf zwischen Deutschland und Eng
land eine immer freundlichere Stimmung. Der Reichskanzler hoffte
auf eine immer weiter gehende Annäherung, mahnte jedoch Lichnowsky,
der nach seiner Ansicht zu stürmisch in dieser Richtung vorwärts
drängte, zu ruhiger Vorsicht. Er wußte, daß England auf die Entente
nicht verzichten wolle und an der Gleichgewichtspolitik festhalte. Des
halb, meinte er, müsse auch Deutschland den Dreibund fest Zusammen
halten, sonst entstehe die Gefahr, daß England „mit dem unsere
Beziehungen noch nicht so fest zusammengewachsen sind, uns unter
französisch-russischem Druck sitzen läßt. Das aber wäre für unsere
Zukunft das Unerträglichste“. Auch die kleinasiatische Frage, die
sicher kommen werde, könnten wir nur mit England gemeinsam lösen,
„genau ebenso wie wir bei allen unseren kolonialen Zukunftsfragen auf
ein Zusammenarbeiten mit England angewiesen sind“ 42 ).
Während des ganzen Winters von 1912 auf 1913 war ein großer
Teil der russischen und österreichischen Armee mobilisiert geblieben,
namentlich auch die in Galizien stehenden Teile der letzteren. Solange
dies der Fall war, konnte die Gefahr eines Zusammenstoßes beider
Großmächte nicht als beseitigt gelten. Keine von ihnen wollte aber den
ersten Schritt zur Abrüstung tun. ln Berlin wünschte man dringend
eine Verständigung über diesen Punkt, konnte sich auch nicht recht
erklären, warum Österreich eigentlich, nachdem Rußland auf das Ver
langen eines serbischen Adriahafens verzichtet hatte, mit großen,
für seine schwachen Finanzen fast unerträglichen Kosten diese Rüstung
aufrecht erhielt. Es scheint, daß General Conrad noch immer an dem
Gedanken einer militärischen Niederwerfung Serbiens festhielt, ohne
die er die dauernde Ruhe an der Südgrenze nicht für gesichert ansah!
und eine Aufteilung Serbiens zwischen Rumänien, Bulgarien und Öster
reich sowie volle Annexion Montenegros erstrebte. Erzherzog Franz
Ferdinand sprach sich jedoch sehr deutlich dahin aus, daß er einen
solchen Krieg, selbst wenn keine Einmischung Rußlands zu befürchten
sei, nicht wolle, zumal dabei nichts Erhebliches zu gewinnen sei. Auch
in den wieder ausbrechenden Krieg der Balkanstaaten wollte er sich
nicht einmischen. Graf Berchtold schloß sich seiner Ansicht an, und
fand in Berlin lebhafte Zustimmung. Aber „Zum Zusehen braucht man
keine mobile Armee“, meinte Staatssekretär von Jagow. General
v. Moltke war darüber völlig mit ihm einverstanden und riet, in diesem
Sinne in Wien zu wirken. Er schrieb selbst an seinen Kollegen Conrad,
4 *) Bethmann an Lichnowsky, 30. Januar.