Full text: Von Bismarck zum Weltkriege

Deutsche Orientpolitik 
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Wangenheim sah diese Werbungen zunächst als ein Mittel an, 
um durch Deutschlands Vermittlung größeren Einfluß auf die gegen 
Rußland etwas mißtrauische türkische Regierung zu gewinnen. Im 
übrigen, meinte er, lebe Giers in Illusionen; man werde abwarten 
müssen, was er tun werde, wenn er Minister sei. Die unkontrollier 
baren Gärungen im russischen Volke seien stärker als die leitenden 
Personen. Auf diese Anregung erfolgte von deutscher Seite keine 
Antwort u ). 
Deutschland wünschte damals noch immer eine Verständigung 
Österreichs mit Serbien, Griechenland, der Türkei und Rumänien. 
Wangenheim machte immer wieder darauf aufmerksam, daß Grie 
chenland mit der Türkei schwer zu engerer Verbindung zu brin 
gen sein werde, weil der Streit um die nördlichen Inseln des 
Ägäischen Meeres unausgetragen sei, und weil Griechenland im 
Grunde doch nach dem Besitz Konstantinopels trachte. Auch 1 mit 
Bulgarien, meinte er, werde sich Griechenland schwer zusammenfinden, 
weil ersteres den Verlust Kawalias nicht verschmerzt habe. Die Türken 
und Österreicher drängten auf Heranziehung Bulgariens, weil es der 
einzige Staat sei, der den Türken zu Lande gefährlich werden könne, 
und weil es ganz unter russischen Einfluß kommen werde, wenn es 
beim Dreibund kein Entgegenkommen finde. Auch Rumänien wünschten 
sie festzuhalten, während andererseits die magyarische Unduldsamkeit 
gegen die in Ungarn wohnenden Rumänen in Bukarest die Abneigung 
gegen den Donaustaat und die Hinneigung zu Rußland verstärke. So 
lange der Kaiser an Griechenland festhalte, schien dem Botschafter keine 
vernünftige Lösung denkbar; resigniert meinte er: „Aus den trüben 
Wassern der Orientpolitik können wir uns nichts herausfischen, ohne 
uns die Finger naß zu machen. Das wird die Zukunft lehren * 12 ).“ 
Wenn man trotz dieser Schwierigkeiten die russische Anregung 
zu einer Verständigung unbeachtet ließ, so lag das wohl daran, daß 
■ man sich inzwischen England bedeutend genähert hatte und im Orient 
nichts tun wollte, was in London hätte verletzen können. 
Schon seit der Reise Haldanes nach Deutschland im Februar 1912 
- schwebten Verhandlungen über ein Kolonialabkommen. Obwohl vieles 
von dem, was man damals ins Auge gefaßt hatte, infolge des Wider 
spruchs des britischen Kolonialamts aufgegeben werden mußte, blieben 
doch einige Punkte fortdauernd Gegenstand weiterer Besprechungen, 
an denen von deutscher Seite neben den Botschaftern Wolff-Metter- 
nich, Marschall und Lichnowsky wesentlich der Botschaftsrat von 
Kühlmann beteiligt war. 
u ) Wangenheim, 26. März 1914; vgl. Wangenheim, 10. März 1915. 
12 ) Wangenheim an Jagow, 7. Mai. Denkschrift vom 9. Mai.
	        
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