Full text: Von Bismarck zum Weltkriege

Politik Englands 
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wurden sie in möglichst unauffälliger Weise durch die Marine-Attaches 
geführt 16 ). Von englischer Seite legte man jedoch keine besondere 
Eile an den Tag; Frankreich und Rußland waren durchaus die drängen 
den Teile. Es war noch keine volle Einigung erzielt, insbesondere die 
russische Forderung der rechtzeitigen Entsendung englischer Trans 
portschiffe in die Ostsee von England noch nicht angenommen worden, 
als Gerüchte über diese Verhandlungen in die Öffentlichkeit drangen. 
Die deutsche Presse geriet darüber in große Erregung, und Grey hatte 
im Parlament sogar auf eine direkte Frage, ob über eine Marinekonven 
tion mit Rußland verhandelt werde, zu antworten (Juni 1914). Er 
wich einer direkten Erklärung aus, indem er sagte, es gebe keine un 
veröffentlichten Verträge, die Englands Entschlußfreiheit beim Aus 
bruch eines Krieges beeinträchtigen könnten und es würde über 
solche auch nicht verhandelt. Dem Fürsten Lichnowsky sagte er, über 
die Meerengenfrage sei seit fünf Jahren mit Rußland nicht gesprochen 
worden, auch bestehe kein Bündnis, wohl aber sehr enge politische 
Fühlungnahme, die aber keine Spitze gegen Deutschland habe 17 ), 
Der russische Botschafter fürchtete Anfang Juli, daß diese Vorgänge 
eine Stockung der Verhandlungen zur Folge haben würden, da es Grey 
schwer fallen würde, gleichzeitig zu dementieren und zu verhandeln. 
In der Tat ist die Konvention vor dem Ausbruch des Weltkrieges nicht 
zum Abschluß gekommen. Es scheint, daß die englische Regierung nur 
zögernd und lau auf diese Besprechungen einging, um die bisherigen 
Verbündeten nicht zu verstimmen, während sie gleichzeitig versuchen 
wollte, wie weit die Annäherung an Deutschland führen werde. 
Es versteht sich, daß diese Wendung der englischen Politik nicht 
dem Wohlwollen für Deutschland entstammte. Von solchen sentimen 
talen Motiven waren Grey und seine Kollegen ebenso weit entfernt 
wie früher Salisbury und Chamberlain. Sie entsprang wohl letzten 
Endes zwei Gründen: man wollte einem Kriege zwischen den beiden 
Mächtegruppen Vorbeugen, den in England die Geschäftswelt und der 
bei weitem größte Teil des Volkes nicht wünschte; und man hielt an 
dem der englischen Politik natürlichen Streben fest, die schiedsrichter 
liche Stellung zwischen diesen Gruppen wiederzugewinnen. Ich habe 
von der Bedeutung und Wirksamkeit des letzteren Motives schon 
früher ausführlicher gesprochen. Selbstverständlich konnte und 
wollte man die Beziehungen zu Rußland und namentlich zu Frankreich 
nicht aufheben oder auch nur lockern, solange man fürchtete, daß 
Deutschland, der Neutralität Englands sicher, die erste Gelegenheit 
zur gewaltsamen Abrechnung mit dem Zweibund ergreifen und diesen 
vermöge seiner überlegenen militärischen und wirtschaftlichen Kraft 
zu Boden schlagen werde. Daß diese Befürchtung sachlich 1 unbegründet 
1G ) Vgl. dazu S i e b e r t, S. 806 f. 
17 ) Lichnowsky, 24. Juni 1914.
	        
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