Politik Englands
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war, daß man in Deutschland keinen Krieg wünschte, auch wenn man
auf Englands Neutralität hätte zählen können, vielmehr auf einen Angriff
von der anderen Seite gefaßt sein zu müssen glaubte, beweist che Hal
tung unserer Politik in den vorangegangenen Jahren und jede Äußerung
unserer verantwortlichen Staatsmänner. Aber daß man in England diese
Befürchtung hegte, daß man dort den Einfluß der Militärs und der
mehr lärmenden als wirklich kriegsbegierigen alldeutschen Kreise weit
überschätzte, daß man in unberechtigter Übertragung eigener Er
fahrungen auf andere Verhältnisse glaubte, Deutschland veranlasse
durch die Steigerung seiner Rüstungen zu Lande das allgemeine Wett
rüsten, wie es die große britische Flottenvermehrung tatsächlich durch
die Verstärkung der eigenen Seerüstung veranlaßt hatte, — dies alles
ist ebenfalls Tatsache, und wenn man diese Motive nicht in Rechnung
stellt, kann man die englische Politik nicht richtig beurteilen.
Noch während des ganzen Jahres 1913 und des Frühlings 1914
wurden von englischer Seite wiederholt indirekte Versuche gemacht, zu
einem Flottenabkommen zu gelangen. Die Rede von Tirpitz im Reichstag
Anfang Februar 1913, worin er ein Verhältnis der Großkampfschiffe
von 10:16 als für Deutschland annehmbar bezeichnete, schien eine
geeignete Grundlage zu bieten. Dagegen lehnte Deutschland den von
Churchill mit Feuereifer vertretenen Gedanken eines Feierjahres im
Flottenbau als unpraktisch ab (10. Februar 1914); er würde auf beiden
Seiten eine völlige Lahmlegung der Werften und große Arbeiter
schwierigkeiten zur Folge gehabt haben. Da Vorschläge über eine
Festlegung der Verhältniszahl im obigen Sinne, die man den Eng
ländern nahelegte, unterblieben, so gerieten diese Verhandlungen ins
Stocken.
England glaubte sich also Deutschland nur vorsichtig und zögernd
nähern zu können, ohne die Fühlung mit den bisherigen Freunden
zu verlieren. Lichnowsky hat immer wieder noch im Sommer 1914
betont, daß England bei einem Kriege zwischen uns und Frankreich
jedenfalls auf der französischen Seite stehen werde. Man hat ihm in
Berlin nicht ganz geglaubt. „Ich möchte glauben,“ schrieb Jagow
am 26. Februar 1914 an den Botschafter, „Sie sehen manchmal etwas
zu schwarz, auch wenn Sie der Ansicht Ausdruck verleihen, im Kriegs
fälle werde England auf alle Fälle an der Seite Frankreichs gegen
uns zu finden sein. Wir haben doch schließlich nicht umsonst unsere
Flotte gebaut, und man wird sich meiner Überzeugung nach im
gegebenen Falle in England doch sehr ernstlich die Frage vorlegen,
ob es denn ganz so einfach und ungefährlich ist, den Schützengel
Frankreichs zu spielen.“
Die Vorstellung, daßi man doch wohl bei einem großen Kriege
auf Englands Neutralität hoffen könne, umsomehr, da man sich jetzt
über so wichtige koloniale Fragen zu einigen im Begriffe war, und
die Hoffnung, sich auch über den nahen Orient noch mit England